Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
heißen Körper abtastete, in Augen und Hals des Säuglings schaute.
Stumm trat Reeva zurück und begnügte sich damit, der Alten auf knappe Befehle hin bestimmte Gegenstände aus dem mitgebrachten Bündel zu reichen. Schließlich schwieg Enva einen Moment, ehe sie dem Mädchen unvermittelt anordnete, aus einigen Kräutern einen Trank zuzubereiten.
Erleichtert machte sich Reeva an die Arbeit. Fast hatte sie schon geglaubt, die Alte sei ratlos; aber während sie nun so sorgfältig wie möglich die Arznei mischte, fiel alle Anspannung von ihr ab. Zufrieden reichte sie Enva den fertigen Trank, damit diese ihn dem Säugling einflößen konnte. Dann richtete sich die alte Heilerin auf und strich sich mit einer müden Handbewegung über die Stirn.
„Diese Arznei soll das Fieber senken“, sagte sie zum Bauern und seiner Frau. „Mit Gottes Hilfe wird der Kleine in ein paar Tagen wieder gesund sein.“
Auch Reeva wandte sich den beiden zu und schaute dem Mann ins Gesicht; es drückte nun fast so etwas wie Dankbarkeit aus. Doch kein Wort der Anerkennung kam über seine Lippen – ohne auch nur einen Gruß auszusprechen, drehte er sich um und stampfte hinaus. Dabei ließ er die Bäuerin zurück, die ob der Unhöflichkeit ihres Mannes sichtlich verlegen war. Immer noch wagte sie es nicht, die beiden Heilerinnen direkt anzusprechen, doch den Blick fest auf den Boden geheftet murmelte sie:
„Wartet noch einen Moment, ich werde euch als Lohn rasch etwas Proviant zusammensuchen.“
Zu Reevas Verwunderung schüttelte Enva den Kopf, während sie zur Tür ging. „Lass nur, gute Frau, und lebe wohl.“
Mit großen Schritten verließ Enva den Hof, sodass Reeva nichts anderes übrigblieb, als ihr hastig zu folgen. Endlich, als das Bauernhaus außer Sichtweite war, blieb die Greisin stehen.
„Enva?“, fragte Reeva schon etwas bang, und danach etwas lauter: „Enva, was ist denn los?“
Eine unheimliche Stille breitete sich aus, als die Angesprochene nur immer weiter vor sich hinstarrte. Dann, plötzlich, wandte sich Enva ruckartig um. „Wir müssen fort.“
Reeva schüttelte verständnislos den Kopf: „Fort? Aber was meinst du damit? Wohin sollen wir denn gehen?“
„Am besten nach Hause. Ja, es ist ein Glück, dass wir unsere Wanderung in einem großen Bogen rund um den Wald gemacht haben; jetzt nähern wir uns wieder von der gegenüberliegenden Seite unserem Heim. Wenn wir rasch gehen und uns keine Pause gönnen, könnten wir schon morgen wieder bei der Hütte sein.“
Reeva starrte Enva mit aufgerissenen Augen an. Etwas musste geschehen sein, etwas ungeheuer Schreckliches, das der Alten den Verstand geraubt hatte. Wie sie so unbeweglich dastand und mit ausdrucksloser Stimme diese wirren Dinge sagte, jagte sie dem Mädchen allmählich Angst ein.
„Enva, es ist gut“, versuchte Reeva die Alte zu beschwichtigen, obwohl sie selbst zu zittern begonnen hatte. „Unsere Wanderung ist noch nicht zu Ende. Wir wollten die Reise noch einige Zeit lang fortsetzen, erinnerst du dich? Lass uns ins Dorf zurückkehren, komm.“
Sie machte Anstalten, Enva an der Hand fortzuziehen, doch plötzlich kam Leben in die gebückte Gestalt. Heftig riss sie sich los, ergriff das Mädchen an den Schultern und drehte es so, dass es ihr ins Gesicht schauen musste. Ein grauenvoller Schreck durchzuckte Reeva und drang bis tief in ihr Herz: Zum allerersten Mal glaubte sie, Tränen im schwarzen Auge der Alten zu sehen.
„Du verstehst nicht!“, rief Enva, und ihre raue Stimme überschlug sich. „Weißt du, was mit dem kleinen Jungen geschehen wird, der da in seiner Wiege mit dem Fieber ringt? Der Trank, den du zubereitet hast, ist nutzlos – es ist zu spät! Und sein Vater ist ein angesehener Mann, die Menschen hören auf ihn …“
„Bitte, Enva … beruhige dich doch“, flehte Reeva. „Dass dieses Kind sterben muss, ist schrecklich. Aber es ist nicht unsere Schuld, dass das passiert, es ist nicht deine Schuld! Niemand wird das behaupten, und es wird uns nichts geschehen.“
„Oh doch, das wird es“, erwiderte Enva leise und nickte ein paarmal mit dem Kopf; die Tränen waren verschwunden. „Das wird es. Du weißt, was dieser Bauer von uns hält, nicht wahr? Er hat uns nur aus seiner Notlage heraus um Hilfe gebeten, und nun haben wir versagt: Es wird aussehen, als wollten wir uns dafür rächen, wie er uns behandelt hat. In seinem Zorn wird er die Menschen gegen uns aufhetzen … und du weißt, wozu Menschen in Zorn und Angst
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