Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
waren?
Endlich hatten Enva und Reeva den höchsten Punkt des Hügels erreicht, von wo aus sie den Wald sehen konnten. Versteckt zwischen den mächtigen Baumstämmen gab es vielleicht noch eine Spur von Hoffnung, zu entfliehen; auch konnte ihnen dort der Mob nicht so schnell folgen. Hier aber, auf freiem Feld, waren sie leichte Beute für die zornentbrannten Menschen.
Schlitternd machten sie sich an den Abstieg, immer kurz davor, zu stürzen. Bald hatten sie den Waldrand erreicht, bald, bald … Reeva verlor nun tatsächlich auf dem abschüssigen Weg das Gleichgewicht, schlug auf dem Boden auf und rollte das restliche Stück des Hügels hinab. Irgendwo stieß sie sich heftig den Kopf, doch das beachtete sie nicht weiter; schnell richtete sie sich wieder auf, wollte auf die schützenden Bäume zustürmen – und erblickte einen einsamen Mann, der ihr von genau dort entgegenkam.
Er trug Pfeil und Bogen mit sich, und zwei Hasen mit zusammengebundenen Läufen baumelten über seine Schultern. Erstaunt starrte er die Alte und das Mädchen an, die nach einer Schrecksekunde an ihm vorbeihetzten. Erst einen Moment später erblickte er die Bauern, die kurz darauf an der Spitze des Hügels auftauchten und ihm wild gestikulierend etwas zubrüllten. Doch sie waren noch zu weit entfernt, als dass er sie verstehen konnte; inzwischen liefen Reeva und Enva bereits zwischen den mächtigen Baumstämmen hindurch.
Und dann begriff der Jäger langsam, was ihm die aufgebrachten Menschen zuriefen. Er schaute zuerst zum Mob, der soeben den Abhang hinunterjagte, und dann wieder zurück zu den flüchtenden Gestalten, die nach und nach von der Finsternis verschluckt wurden. In diesem Augenblick fasste er einen Entschluss.
Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er einen Pfeil aus dem Köcher, den er um den Rücken geschnallt trug, und spannte die Bogensehne. Wie gebannt hatten die Bauern auf halbem Wege innegehalten, als der Pfeil durch die Luft sirrte und dann einen Baumstamm traf.
Noch einmal griff der Mann nach hinten, um ein weiteres Geschoß aus dem Köcher zu ziehen. Er hob den Bogen und verharrte einen Moment, in dem er mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Bäumen hindurchspähte. Es wurde mit zunehmender Dunkelheit immer schwieriger, die Fliehenden zu erkennen; doch er war ein geübter Schütze und verließ sich auf seinen Instinkt. Auch dieses Wild würde ihm nicht entkommen. Er ließ die Bogensehne los, die mit einem leisen Pfeifen nach vorne schnellte. Der Pfeil sauste davon …
… und traf. Er bohrte sich tief in die Seite der alten Frau, die sich im Laufen halb umgewandt hatte, und blieb dort stecken.
Die Zeit schien einige Atemzüge lang still zu stehen. Reeva sah Enva neben sich erst wie erschrocken zusammenfahren, das faltige Gesicht verzerrt; dann stürzte die Alte nieder.
Der Wilderer ließ seinen Bogen sinken.
Reeva ging neben der Alten auf die Knie, griff nach ihrem Arm: „Enva, Enva, steh auf, um Gottes willen!“ Dann, endlich, regte sich die Greisin wieder und ließ sich von dem Mädchen auf die Beine helfen. Ihre runzlige Hand fuhr zu dem Pfeil an ihrer Seite, wo sich erst langsam, dann immer rascher ein dunkler Fleck auf ihrem Gewand ausbreitete. Danach drehte sie den Kopf, blickte ihren Verfolgern entgegen und löste damit den Bann.
Die Bauern stürzten johlend und brüllend den restlichen Abhang hinunter, einige umringten den erfolgreichen Schützen, klopften ihm auf die Schultern, andere trieben weiter zur Eile an: In der Zwischenzeit waren die verrückten Weiber weitergelaufen, als gäbe es noch irgendeine Möglichkeit für sie, zu entkommen. Kurz darauf verschwanden die beiden in der Finsternis, die sich nun vollends auf den Wald herabsenkte.
Doch nun, da ihr Toben für einen Moment unterbrochen worden war, schien es, als wäre den Männern die Lust an der Verfolgungsjagd vergangen. Die besonders Hartnäckigen versuchten, die anderen wieder anzustacheln und ihren Ehrgeiz aufs Neue zu entfachen, doch vergebens: Die Meute begann sich zu zerstreuen, die ersten Bauern trollten sich bereits wieder in Richtung Dorf. Den zornigen Vater des verstorbenen Säuglings beschwichtigte man mit den Worten, in der Nacht und ohne Fackeln könne man ohnehin nichts ausrichten. In ihrem Zustand würden es die beiden verfluchten Weiber nicht weit schaffen; am nächsten Morgen werde man die Suche fortsetzen und die Hexen mit Leichtigkeit einholen. Die Männer machten sich zur Dorfschenke auf, und am Waldrand wurde es
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