Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
wieder still …
***
Reeva versuchte, an einen Schritt nach dem anderen zu denken, ihre gesamte Willenskraft in jede einzelne dieser immer wiederkehrenden Bewegungsabfolgen zu legen: So oft schon hatte ihr das geholfen, wenn sie beim Wandern am Ende ihrer Kräfte gewesen war. Das monotone Spiel ihrer Muskeln und Gelenke hatte sie immer in eine Art Trance versetzt, sodass sie alles um sich her vergaß und sich wie von selbst fortbewegte.
Doch in dieser Nacht gelang es ihr nicht, sich auf die eigenen Schritte zu konzentrieren. Wieder und wieder gewann die Verzweiflung die Oberhand, wenn Enva neben ihr stolperte und zu stürzen drohte. In der Dunkelheit konnte Reeva die Wunde kaum erkennen, doch manchmal verrutschte zufällig ihre stützende Hand – dann wurden ihre Finger klebrig von dem Blut, das den Umhang der Alten durchtränkte.
Sie hatte Enva gebeten, den Pfeil entfernen zu dürfen, doch diese hatte es nicht zugelassen. In der Eile und ohne Licht bestand die Gefahr, dass beim Herausreißen der Spitze eine Ader verletzt wurde und die Greisin auf der Stelle verblutete. Also hatte Reeva lediglich den Schaft abbrechen und die Wunde auf eine Art verbinden dürfen, dass der Rest des Pfeils zwischen den Bandagen hervorragte.
Das Mädchen fühlte sich elend, weil es im Moment nichts weiter für Enva tun konnte. Sie mussten versuchen, so rasch wie möglich die Hütte zu erreichen – doch würde die Alte das in ihrem Zustand überhaupt schaffen? Anfangs hatte sie noch leise gestöhnt oder etwas gemurmelt, doch bald war sie völlig verstummt und schleppte sich teilnahmslos neben Reeva her. Wie lange schon? Das Mädchen wusste es nicht.
„Lass uns hier rasten, Enva“, flüsterte Reeva schließlich. „Du kannst dich nicht weiter quälen.“
Doch auch jetzt noch bewies die Greisin ihre Verbissenheit und Willensstärke. Obwohl sie jedes einzelne Wort Mühe zu kosten schien, erwiderte sie: „Nein. Wir müssen weiter, denn schon bei Tagesanbruch werden sich die Männer wieder auf die Suche nach uns machen.“ Und dann, nach einer kurzen Atempause, fügte sie etwas fester hinzu: „Es genügt schon, dass du durch mich viel langsamer vorankommst. Ganz aufhalten werde ich dich nicht.“
Irgendwann, als die ersten Sonnenstrahlen sich durch das Blätterdach ergossen und den Waldboden golden sprenkelten, schienen Reeva die Bäume und Sträucher allmählich bekannt vorzukommen. Hatte sie hier nicht einmal eine Ricke mit ihrem Kitz aufgestört? Und dort drüben hatte sie doch an einem schönen Frühlingsabend, es schien Jahre her zu sein, Kräuter gesammelt? Reevas Herz begann heftig zu klopfen, und erstaunt bemerkte sie, dass sie selbst in einer Situation wie dieser etwas wie Freude empfinden konnte. Zum allerersten Mal in ihrem Leben verspürte sie das Glück, nach langer Zeit wieder heimzukehren, und dieses Gefühl gab ihr die Kraft, Enva noch das letzte Stück des Weges mit sich zu schleppen. Die Alte hatte in den vergangenen Stunden mehrmals kurz das Bewusstsein verloren, doch nun, das wusste Reeva, würde alles wieder gut werden.
Endlich traten sie zwischen den Bäumen hervor auf die Lichtung. Dort, im sanften Licht der Morgendämmerung, stand die kleine Hütte. Reeva konnte es nicht fassen, dass sie genau so aussah wie bei ihrem Aufbruch – und dabei waren inzwischen so unendlich viele Dinge geschehen, dass die Welt nicht mehr dieselbe zu sein schien.
Als sie sich langsam ihrem Zuhause näherten, erkannte Reeva, dass sich sehr wohl einige Kleinigkeiten verändert hatten: Zwei der Fensterläden hingen morsch herab, und die umherstreunenden Ziegen und Hühner wirkten ein wenig magerer; doch der Zaun rund um die nahezu abgeweidete Wiese hatte standgehalten. Und dann war da natürlich der Kräutergarten, in dem die Pflanzen zwar schwer gegen das wuchernde Unkraut zu kämpfen hatten, der Reeva jedoch so üppig und prachtvoll erschien wie niemals zuvor.
Bei diesem Anblick regte sich auch Enva ein wenig. Mit einem mühsamen Lächeln murmelte sie: „Da gäbe es einiges für mich zu tun, meinst du nicht auch?“
Reeva brachte einen Moment lang kein Wort heraus, doch sie drückte fest die zitternde Hand der Greisin. Dann nahm sie sich zusammen und sagte: „Komm, Enva, ich bringe dich in die Stube. Du musst dich unbedingt ausruhen, und ich werde deine Wunde versorgen.“
Im Innern der Hütte war es staubig, und es roch ein wenig nach feuchtem Holz, aber dennoch erfüllte sogleich eine Woge von Geborgenheit das
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