Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
für eine Greisin ungewöhnlich kräftig gewesen war. Die Alte würde nicht erlauben, dass sie verzweifelte, nicht einmal in einem Augenblick wie diesem: Schließlich hatte sie dem Mädchen schon vor Monaten gezeigt, wohin es gehen sollte.
Reeva ergriff die beiden Bündel, die immer noch an derselben Stelle lagen, an der sie sie bei ihrer Ankunft fallen gelassen hatte: fast gänzlich von Sträuchern verborgen am Waldesrand. Dann machte sie sich auf den Weg zu Envas Höhle.
***
Die ersten Tage in der Kräuterhöhle stellten Reeva auf eine schwere Probe. Es war nicht die Unfähigkeit, für sich selbst zu sorgen, die ihr zu schaffen machte: Diesbezüglich hatte Enva ihr nahezu alles beigebracht, was sie wissen musste. Nicht von Hunger wurde sie gequält, sondern von der Macht der Stille. Obgleich fast ihr ganzes Leben lang einsam, war sie doch nie völlig alleine gewesen. Nun aber wurde sie rastlos und unsicher, bis schon das kleinste, selbst verursachte Geräusch sie schreckhaft zusammenfahren ließ; und nachts, wenn sie auf ihrem Bett aus Decken und getrocknetem Laub lag, konnte sie manchmal wegen ihres eigenen Herzschlags nicht einschlafen. Irgendwann wurde die Sehnsucht nach einer menschlichen Stimme so groß, dass sie begann, mit sich selbst zu reden – in leisen, hastigen Worten, mehr gemurmelt als tatsächlich ausgesprochen.
Bis auf die Errichtung einer Schlafstätte hatte Reeva nichts in der Höhle verändert, so als fühlte sie sich wie ein Eindringling, der beim plötzlichen Auftauchen des wahren Besitzers sofort Reißaus nehmen würde. Außer der Nahrungsbeschaffung, die ihr in der Üppigkeit des spätsommerlichen Waldes nicht schwer fiel, hatte sie also nichts zu tun; oft saß sie, den Rücken an die steinerne Wand ihrer Behausung gelehnt, stundenlang da und ließ kleine Steinchen auf den Felsboden fallen: Klick. Klick. Klick.
Es dauerte einige Zeit, bis sie sich aus diesen Fesseln der Stille befreien konnte. Doch langsam, ganz langsam nahm ihr geschärftes Gehör endlich wieder die Laute aus ihrer Umgebung wahr: die der Bäume, der Waldtiere, des Flusses.
Der Wald war nicht still. Es war sie selbst gewesen, die einen Schutzwall errichtet und sich in sich selbst zurückgezogen hatte. Doch sobald Reeva sich ein wenig öffnete, ging ihr der Rhythmus des Waldes in Fleisch und Blut über. Fast ohne es zu merken, passte sie sich an: Sie legte sich mit dem Verschwinden der letzten Sonnenstrahlen schlafen und erwachte gemeinsam mit den Vögeln, die im Morgengrauen den neuen Tag begrüßten – sie schien zusammen mit dem Wald zu atmen.
Nachdem sie sich aus ihrer Starre gelöst hatte, warf sie sich förmlich in die Arbeit. Sie sah sich um und erkannte, dass ihre Behausung immer noch nach dem aussah, was sie war; eine Höhle, aber kein Heim. Sofort begann sie, unermüdlich Steine vom nahen Fluss herbeizuschleppen, um eine Feuerstelle in der Mitte ihrer „Stube“ zu errichten: direkt unter einer Öffnung in der Höhlendecke, durch die der Rauch abziehen konnte. Jeden Abend bedeckte sie das Feuer mit Asche, und am Morgen blies sie kräftig in die Glut, um es erneut zu entfachen. Sie sorgte dafür, dass ihre Herdstelle niemals kalt wurde; und ein Ort, an dem stets ein Feuer brannte, war ein Zuhause.
Danach sammelte sie kräftige Äste und Holzstücke, deren Enden sie zuerst über den Flammen ansengte, was das anschließende Zuspitzen leichter machte. Die so entstandenen Pfähle rammte sie dicht nebeneinander in die Erde vor dem Höhleneingang und ließ nur eine schmale Öffnung frei; als „Tür“ diente ihr ein Felsbrocken, den sie leicht verschieben konnte.
Bei dieser Arbeit wurde ihr erst so richtig bewusst, welch ein Glück es war, dass sie genügend Werkzeug besaß; Enva hatte es noch am Tag ihrer Flucht erstanden, so als hätte sie geahnt, was geschehen würde. Bei solchen Gedanken musste sie mehrmals hart schlucken, um sich dann schnell mit irgendeiner anderen Arbeit abzulenken.
Der stabile Zaun vor ihrer Höhle bot nicht nur ihr selbst Schutz, sondern hielt auch gierige Waldtiere fern. Neben den großen Mengen an Kräutern, die Enva schon vor einiger Zeit hierhergeschafft hatte, hing nun nämlich auch geräuchertes Fleisch an Haken von der Decke, wie es in der kleinen Hütte üblich gewesen war. In der Zeit der Stille hatte Reeva immer nur so viel Nahrung aufgetrieben, wie sie im Moment gebraucht hatte; jetzt aber begann sie damit, sich Vorräte anzulegen.
Aus dem biegsamen Zweig einer
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