Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
erschlaffte Antlitz mit dem starr blickenden Auge und dem leicht geöffneten Mund war nicht das der Frau, die ihr zugleich Lehrerin, Großmutter und Freundin gewesen war, es war eine Hülle, ein toter Gegenstand, der langsam erkaltete.
Plötzlich wurde Reeva von einer schrecklichen Angst ergriffen. Die Vase zerschellte auf dem Boden, und die Blumen, die schönsten, die am süßesten duftenden, ergossen sich über den leblosen Körper.
Das Mädchen warf sich herum und stürzte hinaus, quer über die Lichtung, durch den Bach, in den Wald hinein, immer weiter, bis es sich schließlich im Unterholz versteckte, am Boden kauernd, die Hände in den Waldboden wühlend, die Augen ohne eine einzige Träne.
***
Als die Sonne bereits die Wipfel der höchsten Bäume berührte, kam Reeva zurück. Ihr Körper und ihre Seele waren taub geworden; innerlich völlig kalt betrachtete sie vom Rand der Lichtung aus ihr Zuhause, das keines mehr war. Die Hütte, an der Wochen der Abwesenheit nahezu spurlos vorübergezogen waren, hatte die letzten Stunden dieses Tages nicht überstanden. Immer noch tanzten kleine Flammen auf den traurigen Überresten des Häuschens, in Brand gesetzt von dem Zorn und den Fackeln der Bauern. Als Reeva über den niedergebrochenen Zaun hinwegstieg, ohne auch nur ihren Rock anheben zu müssen, und langsam auf den verkohlten Trümmerhaufen zuschritt, stieß sie auf einige Kadaver von sinnlos getöteten Ziegen und Hühnern. Die übrigen Tiere mussten entweder in panischer Furcht geflohen oder von den Männern mitgeschleppt worden sein.
Dann stand das Mädchen direkt vor den gewaltsam zertrümmerten Mauern und ließ den Blick über die schwelenden Bruchstücke schweifen. Hier und da entdeckte es Dinge, die ihm schmerzlich vertraut waren, und die nahezu grotesk den Trümmerhaufen verzierten: eine schwarz verfärbte Decke, ein zerbeulter Kessel, das vom Feuer zerfressene Kräuterbuch, das Enva stets so gut gehütet hatte …
Enva! Mit den Füßen stieß Reeva die heißen Asche beiseite, obwohl ihr entsetzlich davor graute, was sie finden würde – doch die Alte war nicht hier, die Männer hatten ihren Körper mitgenommen. Der Gedanke daran, dass Envas Leichnam geschändet wurde und niemals in der Erde würde ruhen dürfen, ließ Reeva aufschluchzen, obwohl ihre Augen immer noch trocken waren.
Eine plötzliche Kraft erfüllte sie, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie noch besaß, und sie begann, große Bruchstücke aus dem Trümmerhaufen zu zerren. Rastlos rannte sie hin und her, um immer neue Holzteile zu sammeln und dann nahe des Waldrandes aufeinander zu schichten. Der Schweiß strömte ihr dabei über das rußgeschwärzte Gesicht und floss ihr brennend in die Augen, der Aschegeruch brachte sie mehrmals zum Würgen – doch sie ließ nicht locker, bis die Trümmer schließlich einen hohen Stapel bildeten. Als im letzten Tageslicht alle Umrisse schärfer hervortraten, sank sie vor dem Denkmal zu Boden. Blumen aus dem verwüsteten Kräutergarten holte sie keine; sie konnte schon allein ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Lange kniete sie dort, unempfindlich gegen die aufkommende Kühle, den Hunger oder die Müdigkeit, die sich ihres Körpers bemächtigen wollten. Endlich konnte sie auch weinen, doch dadurch wurde es nicht besser: Mit jeder Träne, die in ihren Schoß tropfte, wuchs ihr Zorn auf die Menschen, die mit ihrem dummen Aberglauben Envas Tod verschuldet hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hasste Reeva, von ganzem Herzen und mit jeder Faser ihres Ichs, bis sie glaubte, unter diesem Gefühl zerbrechen zu müssen.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Plötzlich vernahm Reeva, deren Ohren bis dahin vom Dröhnen ihrer Wut erfüllt gewesen waren, wieder das Rauschen der Blätter im Wind, und irgendwo, ganz leise, sang ein Vogel sein Abendlied. Eigentlich war gar nichts Besonderes passiert, doch gerade diese Kleinigkeiten, die so normal und natürlich waren für einen Abend im Wald, rissen Reeva aus ihrem ohnmächtigen Hass. Es erschien ihr unglaublich, dass nach einem solchen Tag der Wind noch immer genauso ruhig klang wie zuvor, und dass die Stimme des Vogels sich um nichts verändert hatte: Wie konnte es sein, dass sich der ganze Wald scheinbar gleichgültig für die Nacht bereitmachte, während mitten darin ein kleines Menschenwesen glaubte, nicht mehr weiterleben zu können?
Auf einmal fühlte sie Envas Hände, die sie so oft festgehalten hatten – diesen Händedruck, der
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