Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
das Tier zu töten.
In der folgenden Zeit fühlte Reeva sich noch unsicherer als zuvor. Ständig glaubte sie den Fuchs in ihrer Nähe, immer wieder griff sie nach ihrem Speer, um dann zu erkennen, dass das Rascheln vom Wind oder der rötliche Schimmer von verfärbtem Laub herrührte. Das ging eine ganze Weile so, doch dann wurde Reeva klar, dass der Fuchs von nun an wohl fortbleiben würde. Wahrscheinlich war er irgendwo im Wald einsam verendet.
Es war in diesen Tagen immer kälter geworden. Nachts hängte Reeva nun ein Fell an der Innenseite des Pfostenzauns auf, damit der Wind nicht durch die Ritzen dringen konnte. Als sie eines Morgens aufwachte, den Felsbrocken beiseiteschob und den Kopf nach draußen streckte, schien die Welt wie verwandelt: Glitzernder Raureif überzog die Grashalme vor ihrer Höhle und schmückte die verschwenderisch bunten Blätter der Sträucher und Bäume. Das Mädchen wusste, dass die gerade aufgehende Sonne diese Pracht bald forttauen würde; deshalb hüllte es sich rasch in seinen Umhang und kroch aus der Höhle, um den verzauberten Wald zu bestaunen.
Entzückt wie ein Kind wanderte Reeva zwischen den Bäumen dahin und pflückte von den Zweigen Blätter, die mit weißen Zacken wie mit Spitze besetzt waren: ein sonnengelbes, ein smaragdgrünes, ein flammendrotes, ein rostbraunes. Nun vergaß sie auch ihre vorsichtige Zurückhaltung, um die sie sich bei ihren Spaziergängen durch den Wald sonst immer bemühte: Mit den Füßen wirbelte sie das herabgefallene Laub auf, sodass es die morgendliche Stille mit lautem Rascheln durchbrach. Die Blätter verströmten einen leicht modrigen, süßen Duft, der noch ein wenig an den Sommer erinnerte; doch Reeva, witternd wie ein Tier, bemerkte auch den eisigen Geruch des Winters.
Ganz plötzlich blieb das Mädchen stehen. Die soeben noch aufgewirbelten Blätter fielen herab, und der Wald hüllte sich wieder in Schweigen, während Reeva konzentriert die Augen zusammenkniff. Einige Schritte entfernt lag etwas auf dem feuchten Boden, halb mit bräunlichem Laub bedeckt und somit fast unsichtbar. Rostrot wie die verfärbten Blätter, doch hier – blitzte an dieser Stelle nicht etwas Weißes hervor?
Mit ein paar Sätzen war Reeva dort und beugte sich hinunter. Der Fuchs lag reglos da, die Augen waren glasig, das Maul halb geöffnet – aber keinerlei schaumiger Speichel war zu entdecken. Mit einem abgebrochenen Zweig wischte Reeva das Laub von dem kleinen Körper, und da wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Mit einem Mal war ihr das Verhalten des Fuchses klar; das verzweifelte Suchen ihrer Nähe, das Hinken: Der linke Hinterlauf des Tieres war in einem schrecklichen Winkel abgeknickt und verdreht, und die entzündete Wunde des offenen Bruchs zog sich lang die schwarze Pfote hinab. Auf die Jagd hatte der Fuchs mit dieser Verletzung ganz gewiss nicht gehen können; die spitz hervorstehenden Rippen zeugten davon. Warum aber hatte er sich ihr genähert, anstatt sich irgendwo zu verkriechen, wie das andere kranke Tiere taten? Hatte ihm sein Instinkt gesagt, dass die Heilkunst dieses Menschen seine letzte Hoffnung war?
Reeva wusste, dass sie einige Rätsel des Waldes niemals würde lösen können. Vorsichtig streckte sie die Hand nach dem Fuchs aus, beruhigend vor sich hinmurmelnd – da zuckte das zuvor reglose Tier zusammen, schnappte nach ihr und erwischte ihren Finger. Mit einem leisen Aufschrei riss das Mädchen die Hand zurück und saugte an der blutenden Wunde.
„Was bist denn du für einer, dich jetzt noch zu wehren? Du wolltest doch, dass ich dir helfe, nicht wahr? Dazu muss ich dich aber anfassen dürfen. Sei ruhig, Füchslein, und hab keine Angst.“
Reeva nahm ihren Umhang von den Schultern und breitete ihn auf dem Waldboden aus. Mit einer plötzlichen Handbewegung schob sie den dünnen Körper darauf, und in der nächsten Sekunde hatte sie den Stoff auch schon verknotet. Der Fuchs zappelte zwar und stieß ein leises Winseln aus, war aber zu schwach, um sich zu befreien. Behutsam nahm ihn Reeva auf den Arm und trug ihn zu ihrer Höhle.
***
Der Fuchs war kein geduldiger Patient. Er hasste das Lager, auf welches das Mädchen ihn gebettet hatte, er hasste die Ziege Graufell, die neugierig an dem Fremdling schnuppern wollte, und vor allem hasste er Reeva. Obwohl er einige Tage lang von Fieber gequält wurde und sehr geschwächt war, stellte er jedes Mal die Nackenhaare auf, sobald sie sich ihm näherte. Wenn sie seinen Verband
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