Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
schüttelte der Mann den Kopf: „Hast du denn noch nichts davon gehört? Der Thronfolger ist schwer erkrankt, und man sagt, dass seine Leibärzte keinen Rat wissen. Der König gab kürzlich bekannt, dass derjenige, der den Prinzen heilen könne, reich belohnt werde.“ Er beugte sich zu Reeva hinunter und fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
„Doch wenn du mich fragst, kommt dieses Angebot etwas zu spät. Die Leute erzählen sich, dass es wohl keine Hoffnung mehr für den jungen Prinzen gibt.“
Reeva sah nachdenklich dabei zu, wie der Bursche sich wieder an die Arbeit machte und die schweren Fässer an die Stelle rollte, die ihm sein Meister deutete. Dann machte sie kehrt und verließ den Marktplatz.
***
Nie hätte Reeva geglaubt, dass es etwas derart Prunkvolles geben konnte. Natürlich hatte sie als kleines Mädchen die Dorfbewohner über den König reden hören und sich dabei vorgestellt, in welchem Reichtum er wohl leben mochte; doch als sie nun das Schloss direkt vor sich sah, überstieg es all ihre kindlichen Fantasien. Neben dem gewaltigen Gebäude fühlte sie sich klein und befangen; minutenlang stand sie reglos da, nur um den Eindruck auf sich wirken zu lassen.
Erst der Gedanke daran, dass inmitten dieses Überflusses irgendwo der zukünftige Besitzer mit dem Tod rang, holte sie in die Wirklichkeit zurück. Mit vor Staunen immer noch geweiteten Augen machte sie sich auf die Suche nach dem passenden Eingang – denn dass sie auch nur in die Nähe des streng bewachten Haupttores gelassen würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Da kam ihr der rumpelnden Karren gerade recht, der das Schloss in einem weiten Bogen umrundete und zielstrebig auf einen kleinen Hintereingang zusteuerte. Dort zügelte der Bauer seinen Ochsen, sprang ab und klopfte gegen das massive Holztor, während sich Reeva hinter seinem Gefährt verbarg. Geduckt beobachtete sie, wie die Tür aufschwang und ein hagerer Mann herauskam, um mit dem Bauern zu verhandeln. Sie konnte zwar nur einige Wortfetzen verstehen, doch das zufriedene Nicken des Karrenbesitzers zeigte ihr, dass sich die beiden einig geworden waren. Wenige Augenblicke später erschienen mehrere Burschen, luden die Säcke ab und schafften sie ins Schloss.
Gerade als der Bauer pfeifend zu seinem Karren zurückschlenderte und der andere Mann das Tor wieder schließen wollte, schlüpfte Reeva aus ihrem Versteck.
„Warte noch einen Moment“, bat sie den Hageren und fügte sofort hinzu: „Mein Name ist Reeva, und ich bin Heilerin. Ich hörte, dass der Prinz erkrankt sei …“
Sie geriet ins Stocken und spürte, wie sie angesichts der abschätzigen Miene ihres Gegenübers den Mut verlor. Wie schon öfter unter dem Starren anderer wurde sie sich ihres eigenen Aussehens bewusst – welchen Eindruck mochte sie wohl in ihren zerlumpten Kleidern und mit dem verfilzten Haar auf den Mann machen? Errötend zog sie das verkümmerte Bein hinter das andere, um es vor seinen Blicken zu verbergen. Mit unsicherer Stimme sprach sie weiter: „Ich glaube, dass ich dem Kranken helfen kann. Ich habe schon viele Menschen geheilt und kenne mich damit aus.“
Endlich regte sich der Mann und fragte kühl: „Ist das so? Du bist dir sicher, dass Seine Majestät, der Prinz, gerade auf die Hilfe einer Bettlerin nicht verzichten kann, obgleich sich mehrere Leibärzte um sein Wohl bemühen?“ Der spöttische Zug um seinen Mund verschwand, dafür erschien nun eine steile Falte zwischen seinen Brauen. „Ich rate dir, auf der Stelle zu verschwinden, Lumpengöre – andernfalls weiß ich, was ich gegen Gesindel deinesgleichen tun muss.“
Krachend fiel die Tür ins Schloss, und zugleich erlosch der letzte Funke von Reevas Mut.
Wieder einmal war sie auf Ablehnung gestoßen – mit einem Gefühl von Bitterkeit bemerkte Reeva, dass es sie gar nicht weiter überraschte. Der Gedanke an den Prinzen ließ sie jedoch nicht los; dabei spielte es keine Rolle, wer er war, sondern einzig und allein, dass er an einer Krankheit litt und Hilfe brauchte. Und diese Hilfe sollte ihm verwehrt bleiben, nur weil sie selbst in Lumpen gekleidet war?
Bedrückt machte sie sich auf den Rückweg, ohne darauf zu achten, was vor ihr geschah. Im letzten Moment konnte sie noch ausweichen, bevor sie gegen einen Menschen geprallt wäre, der ihr entgegenkam. Lautes Lachen ließ sie überrascht den Kopf heben: Mit dem Anflug eines freudigen Lächelns erkannte sie Joseph, ihren ersten Patienten in der Stadt.
„Derartige
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