Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
war nur ein junges Mädchen, das ein großes Wissen über die Heilkraft von Pflanzen besaß und damit sein tägliches Brot verdiente, weiter nichts.
***
Die am Anfang ihrer Wanderung noch spärlich gesäten Dörfer verdichteten sich mehr und mehr, je weiter Reeva kam. Immer öfter begegnete sie nun auch von Ochsen gezogenen Karren, auf denen sie manchmal ein Stück mitfahren durfte. Die Besitzer waren Bauern auf dem Weg in die Stadt, die dort Gemüse oder Geflügel feilbieten wollten.
An einem sonnigen Nachmittag erreichte sie schließlich die Mauern, vor deren riesigem Tor sich unzählige Menschen drängten. Zuerst verspürte Reeva bei diesem Anblick den Wunsch, sofort wieder umzudrehen und zu den friedlichen Dörfern zurückzukehren, doch dann wurde ihr klar, dass sie hier viel weniger angestarrt wurde als sonst. Eigentlich beachtete sie überhaupt niemand – zwischen den voll beladenen Karren, den Ochsen, Bauern und Bäuerinnen, Handwerkern und Kaufleuten, die alle in die Stadt strömten, fiel ein Mädchen mit einem Bündel nicht weiter auf. Unbemerkt gelangte Reeva durch das Stadttor ins Innere der Mauern, wo sich eine neue Welt für sie auftat.
Das Erste, was sie bemerkte, war der Geruch. Für sie, die vor allem die frische Luft des Waldes kannte, war er anfangs schwer zu ertragen: Es war eine Mischung aus dem Gestank von Abfall, Ausscheidungen und herumstreunenden Tieren; und aus dem Schweißgeruch der Menschenleiber, die sich zwischen den Hauswänden hindurchdrängten. Bäuerinnen mit großen Henkelkörben waren auf dem Weg zum Markt, ebenso die reicher gekleideten Händler. Mönche in ihren dunklen Kutten teilten sich die engen Gassen mit grell geschminkten Dirnen und wohlhabenden Bürgern. Dazwischen tollten Kinder bloßfüßig umher, und Schweine wühlten im Dreck der aufgeweichten Straße. Überall gab es etwas zu bestaunen; die vielen Farben und das geschäftige Treiben verwirrten Reeva so sehr, dass sie einmal beinahe von einem Karren überrollt worden wäre. Ein andermal konnte sie sich gerade noch mit einem Satz vor dem Inhalt eines Nachttopfes retten, der aus einem Fenster über ihr geschüttet wurde und lautstark auf den Boden klatschte. Der allgemeine Lärm steigerte sich noch, als einige Leute schreiend Platz schufen für einen prunkvoll gewandeten Mann auf seinem Pferd. Von seiner erhöhten Position aus kümmerte sich dieser gar nicht um die vielen Menschen, die ihn anstarrten – so auch Reeva. Mit offenem Mund blickte sie ihm und seinen berittenen Begleitern hinterher und achtete nicht darauf, wohin sie lief, bis sie plötzlich gegen ein Hindernis stieß.
Erschrocken schaute sie in das bärtige Gesicht des Mannes, in den sie hineingerannt war. Fast schon rechnete sie mit einer Ohrfeige oder zumindest mit einem derben Fluch, doch ihr Gegenüber legte ihr nur die Hände auf die Schultern und schob sie ein Stück von sich.
„Hoppla“, lachte er freundlich; dabei erschienen winzige Fältchen um seine Augen und seinen Mund. „Wer starrt denn hier so unverhohlen? Nun mach aber mal deinen Mund zu, Mädchen, sonst fliegt dir noch etwas hinein! Wohl noch nie hier gewesen, wie?“
Stumm schüttelte Reeva den Kopf. Sie wollte sich schon an dem Mann vorbeischieben und ihren Weg fortsetzen, doch er schien zum Plaudern aufgelegt zu sein.
„Und was macht ein Mädchen wie du zum ersten Mal in der Stadt? Suchst du Arbeit?“, forschte er und musterte ihre verschlissene Kleidung. An dem verkümmerten linken Bein blieb sein Blick nur für einen kleinen Moment hängen, dann richtete er seine Augen wieder auf ihr Gesicht.
Reeva musste sich räuspern, um den Lärm zu übertönen: „Ich bin als Heilerin hergekommen.“
„Sieh an“, meinte der Mann nun etwas ernster. Er schien einen Augenblick zu überlegen; dann nickte er und sprach weiter: „Mein Name ist übrigens Joseph. Und wenn du nichts dagegen hast, möchte ich gerne dein erster Patient sein.“
***
Reeva setzte sich auf ein großes Fass, das jemand an einer Hauswand aufgestellt hatte, und holte einige Gefäße und Leinenbeutel aus ihrem Bündel. Nachdem sie diese gut sichtbar zu ihren Füßen aufgebaut hatte, lehnte sie sich zurück und ließ ihre Augen über das bunte Treiben wandern.
Sie war vor wenigen Minuten aus Josephs Haus gekommen, wo sie ihm eine Salbe für seinen schmerzenden Rücken zubereitet hatte. Der Mann hatte sich weiterhin freundlich mit ihr unterhalten und ihr auch den Ort genannt, an dem sich
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