Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
und dabei herzhaft zugriffen. Auch Reeva spürte, wie sich ihr Magen vor Hunger zusammenzog, doch sie wagte kaum, sich etwas von den üppigen Speisen zu nehmen. Stumm starrte sie auf die Tischplatte und riskierte nur manchmal einen kurzen Blick zum anderen Ende der Tafel, wo der Prinz gerade ein Stück Hasenpastete verzehrte und mit Wein herunterspülte.
Es kam dem Mädchen wie eine Ewigkeit vor, bis sich alle satt gegessen hatten und der König die Tafel aufhob; danach galt alle Aufmerksamkeit den Musikanten, die nun zum Tanz aufspielten. Der Prinz drehte sich mit einem der Edelfräulein zur Musik und ließ auch jetzt nicht erkennen, dass er Reeva bemerkt hatte. Scheu verbarg sie sich wieder in der Nische und wünschte insgeheim, sie könnte zusammen mit den Dienstmägden die übriggeblieben Speisen abräumen und sich in die Küche zurückziehen.
Als Reeva so in dem dunklen Winkel stand und sich die klammen Finger rieb, spürte sie zum ersten Mal die Blicke der Damen. Vermutlich sollten sie gleichgültig wirken, doch kaum hatten sich die Frauen ein wenig von Reeva entfernt, steckten sie die Köpfe zusammen und zischelten wie gereizte Schlangen.
Man hatte bereits von dem seltsamen Mädchen gehört, das der Prinz ins Schloss geholt hatte; es wurde mehr darüber gesprochen, als Reeva ahnen konnte. Das Verhalten des Prinzen, alles was er tat und mit wem er sprach, wurde am Hofe genauestens beobachtet. Die Tatsache, dass er seit Wochen mit einer Bäuerin oder gar Bettlerin verkehrte, hatte große Wellen geschlagen und einige Gemüter erhitzt. Wer oder was war dieses unscheinbare Geschöpf? Musste es als Gefahr betrachtet werden, oder war es nur eine vorübergehende Laune des Prinzen? Dass er gelangweilt war und sich oft von seinen Gefühlszuständen leiten ließ, war schließlich allgemein bekannt.
Irgendwann erschien eine der Dienstmägde und bedeutete Reeva, dass sie nun die Halle verlassen durfte. Niemals zuvor hatte sich das Mädchen so sehr über den Anblick des Steingesichts gefreut wie in diesem Moment. Dankbar folgte sie der Dienerin zum Ausgang und hatte schon beinahe eine Gruppe aufgeputzter Damen passiert, als sie die Worte hörte – Worte, die gerade so leise und so laut geflüstert wurden, dass Reeva sie verstehen konnte, und nur sie. Worte, so scharf wie Pfeilspitzen und ebenso präzise ausgesandt: Dreckige Bettlerin. Königliches Spielzeug. Dorfhure.
Erschrocken drehte sich Reeva um und stolperte dabei über den Saum ihres Kleides. Während sie sich verzweifelt bemühte, das Gleichgewicht zu halten, verzogen sich die Gesichter der Damen zu hässlichen Fratzen – doch kaum stand sie wieder aufrecht, nickten sie ihr höflich zu.
Sobald Reeva die Halle verlassen hatte, zupfte sie Steingesicht schüchtern am Ärmel. „Ich glaube, ich finde schon allein zurück in mein Schlafgemach. Danke.“ So still wie sie gekommen war, verschwand die Dienerin wieder und ließ Reeva vor dem Eingang zur Halle zurück. Noch immer konnte das Mädchen das Stimmengewirr und die Musik hören, doch nun, da es sich außerhalb von all dem befand, wirkte es nicht mehr ganz so bedrohlich.
Plötzlich berührte jemand Reeva an der Schulter. In der Hoffnung, es wäre vielleicht Joseph, drehte sie sich freudig um – und blickte in das Gesicht einer jungen Adligen. Sie trug ein enges, perfekt sitzendes blaues Kleid, und in ihr seidiges Blondhaar waren Perlenschnüre eingeflochten. Der Schmuck schimmerte im Kerzenlicht, als sich die Frau zu Reeva vorbeugte.
„Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe“, sagte sie freundlich und lächelte das Mädchen an. „Ich habe dich während des Festmahls beobachtet. Du bist noch nicht lange hier, nicht wahr?“
Stumm schüttelte Reeva den Kopf. Sie fragte sich, ob diese Dame wohl zu jenen gehörte, die ihr Schimpfnamen nachgezischt hatten – doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Das Lächeln der Blonden wirkte ungezwungen und ehrlich.
„Dein Kleid gefällt mir ausgezeichnet“, behauptete diese nun und ließ ihre Augen über Reevas Gestalt wandern. „Hast du es vom Prinzen geschenkt bekommen?“
Hilflos hob Reeva die Schultern, aber die junge Frau fuhr ohne eine Antwort abzuwarten fort: „In der Tat, Seine Majestät kann sehr großzügig sein …“
Unerwartet rückte sie noch etwas näher, sodass ihr Atem Reevas Wange streifte. Erschrocken versuchte die Jüngere zurückzuweichen, doch die Adlige streckte die Hand aus und hielt sie am Ärmel ihres Kleides fest. „Du
Weitere Kostenlose Bücher