Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
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Von da an rief der Prinz sie oft zu sich, um von ihrem Leben im Wald zu hören und mit ihr zu sprechen. Manchmal musste sie mehrmals an einem Tag zu ihm kommen, dann wieder blieb sie zwei oder drei Tage hintereinander alleine in ihrem Schlafgemach.
Nicht immer war es so einfach wie beim ersten Mal. Reeva musste stets darauf gefasst sein, den Prinzen in einer völlig anderen Stimmung anzutreffen als zuvor: Manchmal war er heiter und freundlich zu ihr; dann war es leicht, ihn mit ihren Geschichten zu unterhalten. Ein andermal fand sie ihn kalt oder zornig vor, und sie musste sich in Acht nehmen, ihn mit dem, was sie sagte, nicht zu reizen. An solchen Tagen konnte es vorkommen, dass er sie mitten im Wort unterbrach und ohne Erklärung aus seinen Gemächern schickte. Aber am schlimmsten war es, wenn er völlig teilnahmslos auf seinem Bett lag und Reeva nicht einmal wahrzunehmen schien. Dann konnte sie tun, was sie wollte – er reagierte nicht und antwortete auch nicht auf ihre zaghaften Fragen. Irgendwann drehte er ihr einfach den Rücken zu, und sie wusste, dass es für sie Zeit war, zu gehen.
Als auf diese Art bereits einige Wochen vergangen waren, sagte der Prinz einmal zu ihr: „Reeva, ich möchte, dass du an dem Festmahl heute Abend teilnimmst. Seit du hier bist, hast du immer allein in deinem Zimmer gespeist. Es wird Zeit, dass dich auch die anderen Menschen hier zu sehen bekommen.“
„Aber“, wandte Reeva vorsichtig ein, „ich glaube nicht, dass die anderen mit mir einverstanden sein werden. Ich werde auffallen und sie stören.“
„Unsinn!“, wurde sie vom Prinzen unterbrochen, der offensichtlich nicht genau verstanden hatte, was sie meinte. „Die Dienstmägde werden dich so kleiden, dass du aussiehst wie all die anderen Damen. Es wird Musik geben und Tanz – du wirst sehen, es wird dir gefallen.“
Zögernd nickte das Mädchen; obwohl der Junge freundlich mit ihm gesprochen hatte, wusste es doch, dass es sich nicht widersetzen durfte.
Lange vor dem Mahl kamen einige Dienstmägde zu Reeva ins Zimmer, die in ihren Augen allesamt Steingesicht vollkommen glichen. Stumm wie Fische machten sie Reeva für das Fest zurecht, als wäre sie nichts als eine große hölzerne Figur. Während eine von ihnen ihr das Haar kämmte und Bänder hineinflocht, steckten die anderen sie in ein besonders edles und zugleich unbequemes Kleid aus zartgrünem Stoff. Das Stirnrunzeln der Dienerinnen bestätigte Reeva, was sie längst wusste: In dem figurbetonten Gewand musste sie, mager wie sie war, wie eine Vogelscheuche aussehen. Eine der Dienstmägde ergriff ihre Hände und drehte sie kopfschüttelnd hin und her; als auch die anderen die Schwielen entdeckten, tauschten sie stumme Blicke.
Endlich ließen die Steingesichter von ihr ab, und eine von ihnen winkte Reeva zu sich. Sie öffnete die Tür und führte das Mädchen zur großen Halle, die von zahlreichen Fackeln und Kerzen erleuchtet war. Reeva blieb stehen, um den Blick über die vielen Menschen in ihren farbenfrohen, prächtigen Gewändern schweifen zu lassen. Als sie sich Hilfe suchend umdrehte, war die Dienstmagd bereits verschwunden.
Ängstlich hielt Reeva sich im Schatten einer Nische und kam erst hervor, als alle sich um eine schier unendlich lange Tafel versammelten. Jeder schien die Sitzordnung zu kennen, welche haargenau eingehalten wurde. Auf einmal wurde Reeva von jemandem am Arm gefasst und zu einem Platz ganz unten an der Tafel geführt. Als sie sich vorsichtig umschaute, entdeckte sie den Prinzen am anderen Ende des Tisches; er schien keinen Gedanken an das Mädchen zu verschwenden, das er hatte verkleiden und in eine Gesellschaft einschleusen lassen, der es überhaupt nicht angehörte. Von ihrem weit abgelegen Platz aus konnte Reeva sein Gesicht nicht genau erkennen, doch seine Bewegungen wirkten auf sie fröhlich und entspannt. Angeregt unterhielt er sich mit einer Dame, die in seiner Nähe saß und mit funkelnden Ketten geschmückt war. Sollte dies tatsächlich der launische, einsame Junge sein, den Reeva fast jeden Tag in seinen Gemächern besuchte?
Schließlich wurde das Essen aufgetragen. Zahlreiche Diener kamen und brachten Wildbret, Fisch, Früchte und vieles mehr. Unwillkürlich musste Reeva an die riesige Küche denken, und sie fragte sich, wie lange die Menschen dort unten wohl für dieses Festmahl geschuftet hatten. Lautes Summen wie von einem riesigen Bienenschwarm erfüllte die Halle, als sich alle unterhielten
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