Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
und davor, zu erfrieren. Und vor dem Ertrinken. Ich fürchte mich auch vor den meisten Menschen, aber nicht vor dir. Du bist für mich nicht der zukünftige König, sondern ein Freund.“
Sie sagte das so schlicht und natürlich, dass der Zorn des Prinzen mit einem Schlag zu verfliegen schien. Auf einmal wirkte er ausgelaugt und müde; die Schatten um seine Augen waren dunkler als jemals zuvor. Schließlich sagte er: „Erzähl mir mehr von deinen Ängsten. Vielleicht vergesse ich darüber die meinen.“
Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. „Meine und deine Ängste haben nichts miteinander gemeinsam. Ich habe Angst vor dem Tod, aber du fürchtest das Leben.“
Der Prinz schwieg. Mit mühsamen Schritten ging er zu seinem riesigen Bett, legte sich nieder und drehte den Kopf zur Wand. Reeva wollte schon gehen, da sagte er plötzlich: „Weißt du, dass deine Augen im Kerzenlicht die Farbe von dunklem Bernstein haben, oder von flüssigem Honig?“
***
Nach diesem nächtlichen Wutausbruch des Prinzen vergaß Reeva nie wieder, ihn zu besuchen. Sie glaubte, dass sie ihm das als gute Freundin schuldig war; nichtsdestotrotz vernachlässigte sie auch die Reitstunden mit Jacob nicht. Sie hatte schnell Fortschritte gemacht und war nun schon dazu bereit, zusammen mit dem Jungen Ausritte durch den Schlosspark zu unternehmen. Wenn sie auf ihrem gutmütigen Schecken hinter Jacobs Fuchsstute hertrabte, konnte sie die bedrückende Kälte des Schlosses vergessen – und damit auch die Sticheleien der Hofdamen, die seit dem ersten Festmahl nicht nachgelassen hatten. Im Gegenteil: Das Starren und Tuscheln schien mit jedem Mal schlimmer zu werden. Reeva wagte nicht, dem Prinzen davon zu erzählen; und so versuchte sie, diese Festessen stillschweigend über sich ergehen zu lassen.
Doch einmal, als sie gerade von einem Ausritt zurückgekehrt war und zusammen mit Jacob im Stall die beiden Pferde versorgte, konnte sie ihren Kummer nicht länger unterdrücken. All die spitzen Worte hatten sich in ihr angesammelt und wollten nun heraus – noch bevor sie richtig darüber nachdenken konnte, hatte sie dem Stallburschen von den Gehässigkeiten der Damen erzählt.
Jacob sagte eine Weile nichts. Er fuhr fort, die rostbraune Mähne der Stute zu striegeln, doch in seiner Miene lag etwas Verbissenes. Dann meinte er unvermittelt: „Reeva, möchtest du heute zu mir nach Hause kommen und zusammen mit meiner Familie zu Abend essen? Meine Mutter hat es mir schon vor längerer Zeit angeboten.“
„Ich möchte schon“, antwortete das Mädchen überrascht, „wenn es ihr nicht zu viel Arbeit ist.“
„Aber nein“, wehrte Jacob ab und lachte, während er dem Pferd einen Armvoll Heu zu fressen gab, „ich habe fünf kleine Geschwister. Ein weiterer Schreihals wird gar nicht auffallen.“
***
In der engen Stube von Jacobs Zuhause war es warm, fröhlich und laut. Hier gab es kein befremdetes Starren, kein Flüstern und keine hochgezogenen Augenbrauen, als Reeva eintrat; die ganze Familie nahm sie in ihre Mitte auf, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Jacobs Mutter, von der er seine kastanienbraunen Locken geerbt hatte, begrüßte das Mädchen mit einem freundlichen Nicken, jedoch ohne es durch übertriebene Aufmerksamkeit in Verlegenheit zu bringen. Sie stand an der Feuerstelle in der Mitte des Raumes, wo sie Suppe kochte und zugleich einen plärrenden kleinen Jungen zu beruhigen versuchte. An ihrem Schürzenzipfel hing ein Mädchen mit verschmiertem Gesicht, das sich Mühe gab, in den dampfenden Kessel zu spähen.
Jacob lächelte Reeva entschuldigend zu und war mit einem Satz bei dem Jungen, hob ihn hoch und wischte ihm die Tränen von den Wangen.
„Wer wird denn hier so weinen, obwohl wir doch einen Gast haben? Was soll Reeva bloß von dir denken?“, neckte er den Kleinen, während er ihn auf seinem Arm auf und ab wippen ließ. „Und du, Anne, komm vom Feuer weg!“
„Das Mädchen soll mir eine Geschichte erzählen“, forderte Jacobs kleine Schwester und setzte sich ohne Scheu auf Reevas Schoß.
„Das will ich gerne tun“, meinte Reeva. „Wovon soll sie denn handeln?“
„Von einem gefährlichen Drachen!“, wünschte sich die Kleine.
„Nun“, sagte Reeva und begann zu lachen, „ich glaube nicht, dass ich besonders viel von Drachen verstehe.“
„Das macht nichts. Er muss nur Feuer speien können und richtig wild sein und am Ende besiegt werden“, erklärte Anne, lehnte den Kopf gegen Reevas
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