Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Fuß. Wie immer, wenn sie einen Spaziergang machte, trug sie ihr altes, schäbiges Gewand; über die Säume der feinen Kleider wäre sie nur andauernd gestolpert. Ihr Haar war jedoch am Morgen von einer Dienerin sorgfältig gebürstet worden, und ihr Gesicht war frei von Schmutz. Der Stallbursche wusste offensichtlich nicht, wo er sie einordnen sollte, also beeilte sie sich, ihm zu helfen:
„Ich heiße Reeva und bin … ich bin die Gesellschafterin des Prinzen.“
„So?“, fragte Jacob, und seine braunen Augen verengten sich ein wenig. „Ist Seiner Majestät trotz all des Prunks langweilig geworden in seinem Schloss?“ Dann aber hob er mit derselben entschuldigenden Geste wie zuvor die Hände: „Das war nicht nett von mir. Du bist sicher froh, eine so gute Arbeit gefunden zu haben.“
Reeva zog die Schultern hoch und ließ sie hilflos wieder fallen. „Kann sein.“
„Und“, fuhr Jacob fort, während er sich wieder ans Striegeln machte, „kannst du auch reiten?“
Froh über den Themenwechsel verneinte Reeva. „Ich hatte bisher nie Gelegenheit dazu. Und da war auch niemand, der es mir hätte beibringen können.“
„So ein Pech“, spottete Jacob, doch sein Gesicht blieb freundlich. „Derlei Ausreden werden dir nun nichts mehr nützen. Was ist, möchtest du es denn lernen?“
„Sehr gern“, versicherte Reeva eifrig.
Im Nu war der Junge mit seiner Arbeit fertig und stand neben ihr. „Dann komm mit“, grinste er und packte sie am Arm, „bevor ich’s mir anders überlege.“
***
Die noch sommerlich frische Wiese, zu welcher der Stallbursche Reeva führte, lag nicht weit vom Schloss entfernt; eine Baumreihe schirmten sie allerdings vor neugierigen Blicken ab und machte sie zu einer eigenen kleinen Welt.
Heimlich hatte Jacob für das Mädchen einen sanften Schecken aus dem Stall geholt – gewiss kein sehr edles Pferd, doch dafür würde seine Abwesenheit kaum auffallen. Der Junge ließ Reeva das Tier selbst am Zügel führen, und sie ging mit dem ungewohnten Gefühl neben ihm her, das ihr neues Gewand in ihr hervorrief: Jacob hatte ihr Männerkleider mitgebracht, die zwar viel zu weit, aber doch bequem und praktisch waren.
„Ich halte nämlich nicht viel vom Damensitz“, hatte der Stallbursche erklärt und sich nicht um Reevas Einwände gekümmert, dass es gewiss als unschicklich gelten würde, wenn sie wie ein Mann ritte. Als sie schließlich auf dem Rücken des stämmigen kleinen Schecken saß, war sie selbst froh darüber, ein Bein auf jeder Seite haben zu können; sie fühlte sich auch so schon unsicher genug.
„Also!“, rief ihr Jacob vom Rande der Wiese zu und klatschte in die Hände, sodass sowohl Pferd als auch Reiterin zu ihm hinübersahen. „Obwohl wahrscheinlich niemand unseren braven Schecken hier vermissen wird, riskiere ich doch eine Menge Ärger. Also tu mir den Gefallen, anständig reiten zu lernen!“
Und Reeva gab sich die größte Mühe. Am Anfang war es nicht leicht, alle Kommandos von Jacob zu befolgen: „Drücke deine Knie immer fest zusammen. Die Fußspitzen müssen nach innen zeigen, Fersen nach unten. Und halte dich um Himmels willen gerade!“
Mit wenigen Schritten war er bei ihr und legte ihr fest die Hand auf den Rücken. „So – gerade. Ja, besser!“
Nach und nach wurde es einfacher, und Reeva verlor ihre Angst. Sie wusste, dass das Pferd unter ihr die Bewegung in der Abendsonne genauso genoss wie sie selbst. Jacob ließ sie einen leichten Trab versuchen, und bald fand sie denselben Rhythmus wie der Schecke, der willig eine Runde nach der anderen drehte. Als es langsam dunkel wurde und der Junge ihr bedeutete, das Pferd zu zügeln, fühlten sich Reevas Hände nach Wochen zum ersten Mal wieder warm an.
„Das war gar nicht schlecht“, lobte Jacob, während er neben das Tier trat. Kurzerhand umfasste er die Taille des Mädchens und hob es aus dem Sattel, als hätte es kein Gewicht. „Wie sieht es aus, möchtest du weiterhin reiten? Selbst unter einem solch strengen Lehrmeister?“
Reeva nickte und lachte – fast hatte sie vergessen, dass sie es noch konnte.
***
Mitten in der Nacht wurde das Mädchen von einem lauten Hämmern gegen die Tür geweckt. Als es erschrocken die Augen aufriss, blickte es direkt in das bleiche Gesicht einer Dienstmagd. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr – die steinerne Fassade hatte Sprünge bekommen und ließ die Beunruhigung der Frau erkennen. Außerdem brach sie erstmals ihr Schweigen, als sie in
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