Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
nicht die Figur eines Jungen zu haben …“
Und dann hörte Reeva ein dumpfes Geräusch, als Jacobs Faust mitten in das Gesicht des Mannes krachte. Da ließen die beiden endlich von ihr ab und verschwanden in der Dunkelheit.
Ohne sie anzusehen, half Jacob ihr auf die Beine. Hastig griff Reeva nach den beiden Hälften ihres Kittels und hielt sie über ihrer Brust zusammen. Ihre Knie fühlten sich immer noch weich an, aber sie konnte das Gesicht des Jungen ziemlich klar erkennen: Seine Augen waren sehr schmal und sein Mund grimmig zusammengepresst.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, und als Reeva nickte, herrschte er sie an: „Wie konntest du so etwas Dummes und Unvorsichtiges tun! Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest bei der Bank auf mich warten? Was ist in dich gefahren, dass du dich von diesen Männern betrunken machen lässt und dann mit ihnen hierher kommst? Wo ist nur dein Verstand geblieben!“
Reeva versuchte etwas zu sagen, doch ihre Zunge war viel zu schwer. Ein plötzlicher Schwindelanfall ließ sie wieder taumeln, und Jacob hielt sie fest.
„Na komm“, sagte er schließlich – sein Zorn schien verflogen zu sein. „Ist dir schlecht? Glaubst du, dass du gehen kannst? Es ist nicht sehr weit.“
Sie verließen das Dorf und erreichten bald die Wiese, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Dort gab Jacob Reeva zu trinken, und allmählich nahm das Schwindelgefühl etwas ab. Der Junge legte sich an ihrer Seite nieder, den Kopf in eine Hand gestützt, und sah sie schweigend an.
„Das ist nicht gerecht“, sagte er nach einer Weile. „Es gibt Menschen wie dich, die immer schlecht von anderen behandelt werden. Früher waren die Leute grausam zu dir, weil sie dich gefürchtet haben, und nun sind sie es, weil du ihnen gefällst.“
Reeva musste an etwas denken, das Enva einst zu ihr gesagt hatte; etwas schleppend wiederholte sie die Worte: „Menschen wie ich müssen lernen, damit zu leben.“
„Das ist Unsinn“, widersprach Jacob heftig. „Niemand sollte sich damit abfinden müssen, schlecht behandelt zu werden.“
Reeva schwieg und griff nach dem Anhänger um ihren Hals – es war eine natürliche Handbewegung für sie geworden, so oft hatte sie das schon getan. Diesmal tasteten ihre Finger allerdings ins Leere.
Leise drang Jacobs Stimme aus der Dunkelheit zu ihr herüber: „Denkst du immer noch an ihn?“
Sie war fest entschlossen, nicht zu weinen, aber er sah es trotzdem in ihren Augen glitzern. Undeutlich murmelte er irgendetwas; dann zog er seinen Ärmel über die rechte Hand und berührte damit vorsichtig ihre Augenwinkel.
„Hör auf“, befahl er schroff. „Ich kann dich nicht mehr weinen sehen. Und nun schlaf!“
***
Reeva wünschte sich, so bald wie möglich aufzubrechen; in diesem Dorf hielt sie nun nichts mehr. Also ließ sich Jacob den Lohn für seine Arbeit etwas früher als geplant auszahlen und kaufte davon Decken, Verpflegung – und eine Schere.
Am Abend vor ihrer Abreise überredete er Reeva, sich im schwächer werdenden Tageslicht ruhig hinzusetzen; dann schnitt er die unregelmäßigen Strähnen ihres jämmerlich zugerichteten Haars.
„So“, sagte er schließlich zufrieden und trat einen Schritt zurück. „Schau es dir an und gib zu, dass es gar nicht schlecht geworden ist – vielleicht habe ich doch eher das Zeug zum Scherer als zum Stallburschen.“
Misstrauisch betrachtete sich Reeva in der spiegelnden Wasseroberfläche eines Teiches. Die Haartracht erinnerte nun mehr denn je an die eines Knaben, doch dafür sah sie nicht mehr so aus wie das, was sie ursprünglich gewesen war: das grobe Werk eines hasserfüllt geführten Messers.
„Nun?“, drängte Jacob und blickte sie erwartungsvoll an.
Reeva schwieg noch einen Moment und strich sich übers Haar; dann musste sie plötzlich lächeln: „Es fühlt sich beinahe so an wie das Fell eines Fuchses.“
***
Sie setzten ihre Reise fort und kamen gut über die Grenze ins benachbarte Königreich. Immer wieder durchquerten sie Dörfer, in denen sich der Stallbursche als Tagelöhner verdingte. Ein Vorfall wie jener mit dem Stoppelbärtigen und seinen Kumpanen wiederholte sich niemals, und Reeva wuchs gut in die Rolle von Jacobs jüngerem Bruder hinein. Bei der gelegentlichen Arbeit auf den Feldern durfte sie ihm zwar noch immer nicht helfen, aber während sie auf seine abendliche Rückkehr wartete, unterhielt sie sich manchmal ohne Scheu mit der Dorfjugend – es war ein eigenartiges Gefühl,
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