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Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kira Gembri
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einmal nicht angestarrt und gemieden zu werden. Langsam gewann das Mädchen an Sicherheit.
    Nachdem ihre Wanderung sie schon weit in das Nachbarland hineingeführt hatte, machten ihnen auf einmal heftige Regenfälle das Fortkommen schwer. Sooft es ging, bat Jacob einen vorbeifahrenden Bauern oder Händler darum, sie ein Stück mitzunehmen; doch nicht selten blieb ein Karren im Schlamm der aufgeweichten Straße stecken und konnte nur mühsam wieder fahrtüchtig gemacht werden. Trotz dieser Erschwernisse waren sie bald nicht mehr allzu weit von der Stadt entfernt, in der sich der König zu dieser Jahreszeit aufzuhalten pflegte; und sobald das sonnige Wetter zurückgekehrt war, kamen sie wieder rascher voran.
    An jenem Tag, der sich tief in Reevas Gedächtnis eingraben sollte, schien die Sonne besonders warm und trocknete auch noch die letzten Pfützen des vergangenen Regens. Als sie einen Hügel erklommen hatten, erkannten sie zu ihrer Freude ein Dorf am Horizont. Obwohl sie beide erschöpft waren, schritten sie weiter aus, um so bald wie möglich das lockende Gasthaus zu erreichen. Beim Näherkommen fielen ihnen einige Leute auf, die offenbar aus den Nachbarorten stammten und dasselbe Ziel anstrebten wie sie selbst; und als die ersten Häuser nicht mehr weit entfernt waren, schallte lautes Stimmengewirr zu ihnen herüber.
    „Was mag dort bloß los sein?“, wunderte sich Reeva. Neugierig reckte sie den Hals, doch bis auf die aufgeregten Menschen konnte sie nichts entdecken.
    „Vielleicht ein Fest“, vermutete Jacob, und plötzlich leuchtete sein Gesicht auf. „Dann gibt es dort gutes Essen, Musik – und Tanz! Das wird ein Spaß, Reeva, glaub mir! Komm!“
    Er nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her in Richtung Dorfplatz.
    Die Menschenmenge, auf die sie dort stießen, übertraf all ihre Erwartungen. Männer, Frauen, Alte und Junge, ja auch einige Kinder drängten sich zwischen den strohgedeckten Häusern hindurch, schoben und stießen und erfüllten das Dorf mit ihrem Geschrei. Unwillkürlich umklammerte Reeva Jacobs Hand noch etwas fester, doch bald fiel es ihr schwer, dem Jungen zu folgen. Er wandte den Kopf zurück und rief ihr irgendetwas zu, aber es ging im Lärm der anderen Menschen unter. Dann bekam Reeva einen heftigen Stoß in den Rücken, der sie stolpern ließ. Jemand drängte sich an ihr vorbei und riss sie dabei ein Stück mit – sie fühlte noch einen Moment lang Jacobs warme Finger, dann entglitten sie ihr, und sie wurde von der Menge fortgezerrt. Ängstlich drehte sie sich ein paarmal um sich selbst, um nach einem kastanienbraunen Haarschopf Ausschau zu halten, doch vergebens: Vor ihr ragten hochgewachsene Männer auf und versperrten ihr die Sicht. Das Gedränge wurde nun noch schlimmer, ein Mann rammte ihr den Ellbogen in die Seite – „He, Junge, mach mal den Weg frei!“ – da gab Reeva ihre Suche auf und ließ sich widerstandslos vorwärtsschieben.
    Endlich blieben die Leute stehen und drehten sich alle in dieselbe Richtung, als beobachteten sie irgendetwas. Reeva zupfte einen Bauern, der direkt vor ihr stand, schüchtern am Ärmel: „Verzeih, guter Mann – gibt es hier ein Fest?“
    Der Angesprochene lachte nur und zog Reeva statt einer Antwort ein Stück nach vorne. „Dort, siehst du? Da hast du dein Fest, mein Junge!“
    Reeva stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menschen hinwegspähen zu können – dann erblickte sie ihn, den Pfahl inmitten eines Holz- und Reisighaufens, und plötzlich wusste sie, was geschehen würde. Sie sah die Bilder, die sie vor zwei Jahren als ihre erste Vision gequält hatten, sah den Scheiterhaufen, roch das Feuer, das noch nicht brannte, aber bald, bald …
    Auf einmal war da eine Stimme, dicht an ihrem Ohr: Es war der Bauer, der sich zu ihr herunterbeugte und ihren erstarrten Gesichtsausdruck wohl falsch gedeutet hatte.
    „Noch nie bei einer Hexenverbrennung gewesen, mein Sohn? Dann pass gut auf, so etwas erlebst du nicht alle Tage. Sie haben eine junge Hebamme zum Tode verurteilt, die Schadenszauber verübt hat. Ihre Nachbarin hat sie zu sich rufen lassen, als sie in den Wehen lag – mit der ist sie doch schon lange zerstritten, also hat es niemanden besonders gewundert, als das Kind dann tot zur Welt kam! Nun, ich selbst habe ja schon immer gemeint, etwas sei faul an der; jetzt bekommt sie, was sie verdient.“
    Reeva versuchte sich wegzudrehen, sich dem Bauern zu entziehen, aber seine große Hand lag fest auf ihrer Schulter.

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