Das Mädchen aus Mantua
Stadt. Das ist mir neulich schon aufgefallen, als du noch … Marino warst. Es hat mir sehr gefallen, mit dir zu reden, es hat Spaß gemacht. Das ist übrigens auch einer der beiden Gründe, warum ich dich heute Nacht sehen wollte. Ich wollte wissen, ob es einen Unterschied macht.«
»Dass ich nicht Marino bin, sondern Celestina?«
Er nickte.
»Und, macht es einen Unterschied?«
Er nickte abermals, und ihr sank das Herz. »Du kannst mich wohl nach meiner … Verwandlung nicht mehr richtig leiden, wie?«
»Das habe ich nicht gesagt. Nur, dass es einen Unterschied macht.«
»Aber wenn der Unterschied so groß ist, dann schließe ich daraus …«
»Du ziehst oft voreilige Schlüsse«, sagte er.
Sie hatten das Gassengewirr hinter sich gelassen und den Stadtrand erreicht, wo der Bacchiglione eine natürliche Grenze nach Westen hin bildete.
Von dem Weg, der am Ufer entlangführte, zog sich ein Trampelpfad zwischen Weiden hindurch, deren Äste fast bis zum Boden hingen. Der Mond stand hoch über dem Fluss und tauchte die Umgebung in mattsilbernes Licht. Zwischen den Bäumen gab es ein Areal mit Büschen, deren Blüten weißlich schimmerten. Ein betäubender Duft ging von ihnen aus.
Celestina blähte die Nasenflügel. »Oleander!« Entzückt ging sie auf die Büsche zu und sog tief den Atem ein. »So viele auf einmal habe ich noch nie gesehen!« Sie streckte die Hand aus und pflückte eine der Blüten, um daran zu schnuppern.
»Vorsicht«, warnte er. »Sie sind giftig.«
»Ich esse sie ja nicht.«
»Komm mit!« Er ging voraus, um die Büsche herum und einige Schritte am Ufer entlang. Das vorbeiströmende Wasser gluckerte in Höhlungen unter der Böschung und erzeugte Wirbel auf der Oberfläche, die im Licht der mitgeführten Talgleuchte schwach glitzerten. Ein umgestürzter Baum versperrte ihnen den Weg. Hier wuchsen noch mehr Oleanderbüsche, sie schienen ihren Platz unweit des Wassers gegen den verrottenden Stamm verteidigen zu wollen.
Timoteo setzte sich auf den Baumstamm, und ohne nachzudenken ließ Celestina sich an seiner Seite nieder.
»Ist das die Stelle, die du mir zeigen wolltest?«
Er nickte. »Als Junge bin ich oft hierhergekommen, wenn ich es zu Hause nicht ausgehalten habe.«
Sie ahnte, dass er immer noch oft herkam, und sie versuchte, sich vorzustellen, wie es war, in einer Familie aufzuwachsen, wo Hass und Verbitterung über Jahre hinweg das Leben prägten. Timoteos Vater, Alberto Caliari, galt seit dem gewaltsamen, von Geheimnissen umrankten Tod seiner Frau als unzugänglicher Hagestolz. Celestina hatte ihn einmal von Weitem gesehen, auf einem Fuhrwerk sitzend, der Rollstuhl neben ihm auf der Ladefläche befestigt, und seine beiden Söhne, die ihn nach Erreichen des Ziels herunterheben würden, vorn auf dem Kutschbock. Es war kein Bild der Harmonie gewesen, sondern eines, das von unterdrücktem Zorn, Einsamkeit und Hilflosigkeit kündete.
Timoteo stellte das Windlicht zwischen seinen Füßen ab und schaute auf den im fahlen Mondlicht schimmernden Fluss. Dann wandte er sich Celestina zu. »Ich danke dir, dass du mit mir hergekommen bist.«
Sie betrachtete ihn aufmerksam. Merkwürdig, dass er ihr noch am Morgen so unnahbar und furchteinflößend erschienen war. Zweifellos war er ein Mann, vor dem man sich ängstigen konnte, jedoch nur dann, wenn man ihn zum Feind hatte. Und mit einem Mal wusste sie, dass er nie ihr Feind gewesen war, von Anfang an nicht.
Seine Augen waren dunkel im Licht der Öllampe, und sein Gesicht war voller Schatten, doch zum ersten Mal konnte sie darin lesen, als würde sie ihn schon ihr ganzes Leben lang kennen. Seine Miene offenbarte widerstreitende Gefühle, Verlegenheit ebenso wie Entschlossenheit, doch ein Ausdruck überlagerte alles – Begehren.
Du lieber Himmel!, dachte sie erschrocken. Er hatte von zwei Gründen gesprochen. Dies war der andere!
Er legte seine Hand gegen ihre Wange, und als sie spürte, wie seine Finger zitterten, wusste sie, dass er das zum ersten Mal tat. Sie hätte ihm mit einem einzigen Wort Einhalt gebieten können. Oder einfach nur den Kopf wegdrehen können. Doch sie brachte es nicht fertig. Nicht etwa, weil sie ihn nicht verletzen wollte, und schon gar nicht aus Berechnung. Sondern weil ihr Herz plötzlich und ohne Vorwarnung anfing zu hämmern. Weil in ihr etwas aufbrach, von dem sie geglaubt hatte, es nie wieder zu erleben. Sie war jung, und sie hatte die Leidenschaft nicht vergessen, obwohl sie gedacht hatte, mit Jacopos Tod
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