Das Mädchen aus Mantua
wieder mit aller Macht. Der heilige Antonius hatte sie angehört und sie von ihren Sünden befreit. Nun konnte die Buße folgen. Voller Inbrunst begann sie zu beten.
Am selben Morgen
Celestina hatte eine unruhige Nacht verbracht.
Der Kuss schien noch immer auf ihren Lippen zu brennen, sie wagte kaum, aufzustehen und den anderen gegenüberzutreten, weil sie fürchtete, man könne ihr ansehen, was geschehen war.
In der Nacht war ihr Gelächter rasch verklungen, stumm vor Ernüchterung hatte sie mit Timoteo den Heimweg angetreten. Auch er hatte nicht viel gesagt. Es war nicht festzustellen, was ihm schlimmer zusetzte, seine Verlegenheit wegen des Kusses oder ihre Schweigsamkeit. Auf seine Versuche, während des Rückwegs ein Gespräch in Gang zu bringen, hatte sie einsilbig reagiert, während sich ihr Inneres in Aufruhr befand.
Der hatte sich seither kaum gelegt. Wozu hatte sie sich nur hinreißen lassen! Wie hatte sie Jacopos Andenken derart verraten können! Sie vermisste ihn immer noch so sehr, dass es wehtat. Nie hätte sie sich vorstellen können, aus der Hitze des Gefechts heraus einen anderen Mann zu küssen.
Gewiss, das Trauerjahr war vorbei, niemand konnte Einwände erheben, falls sie plante, sich wieder zu binden. Aber davon konnte überhaupt keine Rede sein, jedenfalls nicht im moralisch zulässigen Sinne. Sie hatte einen Mann geküsst, der nicht nur jünger war als sie, sondern völlig unerfahren. Dem es mitnichten darum ging, sich zu binden, sondern allein darum, diesem Zustand der Unerfahrenheit abzuhelfen. Kurz, es war unsittlich.
Nach dem Aufstehen schrieb sie ihm eine Nachricht, die sie versiegelte und einem Botenjungen übergab. Die Botschaft bestand nur aus einem Satz.
Wir vergessen es lieber und sehen uns vorerst nicht wieder.
Vergessen konnte sie den Kuss allerdings nicht, dafür hafteten alle schamlosen, lüsternen Einzelheiten viel zu genau in ihrem Gedächtnis. Es kam ihr sogar dann in den Sinn, wenn sie die Warzen ihrer Tante behandelte oder wenn sie anatomische Zeichnungen studierte. Ihr Seelenfrieden war so vollständig dahin, dass sie jene Begegnung und alles, was damit zusammenhing, am liebsten ungeschehen gemacht hätte.
Das war naturgemäß nicht möglich, aber wenigstens war Timoteo so einsichtig, sie in Ruhe zu lassen. Ihre Botschaft blieb unbeantwortet.
Am folgenden Tag
Gefunden wurde der Einhändige erst zwei Tage nach seinem Tod; man hatte Rücksicht auf den armen Invaliden nehmen und ihn nicht stören wollen. Als man entdeckte, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilte, war sein Körper bereits aufgequollen und hatte begonnen, zu stinken; von den vielen Fliegen, die sich in seinem Zimmer versammelt hatten, ganz zu schweigen.
Der herbeigerufene Capitano stellte sofort fest, dass es sich um einen ähnlichen Fall handelte, wie es sie in der letzten Zeit häufiger gegeben hatte. Dennoch konnte nicht ausgeschlossen werden, dass der Mann sich absichtlich vergiftet hatte. Er hatte in den vergangenen Tagen gegenüber dem Gesinde geäußert, dass er nicht mehr leben wolle, weil die Schmerzen so unerträglich seien.
Eine Verbringung zur Anatomie der Universität erfolgte gleichwohl nicht, stattdessen erhielt der Tote ein Begräbnis auf dem Armenfriedhof.
Obwohl infolge des möglichen Selbstmords eine anatomische Sektion rechtens gewesen wäre, verstieß der Capitano mit der Anordnung der sofortigen Beisetzung nicht gegen die Vorschriften, denn zur Anatomie hätte man die Leiche ohnehin nicht verfrachten können – die Universität war bis Anfang Oktober geschlossen.
Am Vortag hatten die großen Ferien begonnen.
Teil III
Padua, zwei Wochen später, Ende Juli 1601
»Eine Botschaft für Euch, Madonna!« Morosina, die an der Tür geklopft hatte, betrat die Kammer und reichte Celestina einen zusammengefalteten, mit Wachs versiegelten Zettel.
Celestina merkte zu ihrer Bestürzung, dass ihre Hand zitterte, als sie die Nachricht entgegennahm. Allein bei dem Gedanken an Timoteo stieg ihr die Schamröte ins Gesicht.
Aber woher kam dann dieses hoffnungsvolle Flattern in ihrer Bauchgegend?
Sie riss den Zettel auf. Vage Enttäuschung erfasste sie, denn die schwungvollen, schnörkellosen Zeilen stammten nicht von Timoteo, sondern von Frater Silvano.
Verehrte Monna Ruzzini , schrieb er.
Mir ist bewusst, dass Ihr in den vergangenen Wochen keinen Anlass hattet, Euch ins Spital zu begeben. Heute aber habe ich einen Fall, den ich Euch gern vorstellen möchte. Entscheidet danach, ob
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