Das Mädchen aus Mantua
»Ich meine natürlich nicht im Sinne von zu früh , sondern im Sinne von früh am Tage .«
Es klang auf bemühte Weise leutselig. Sofort überkam Celestina das unangenehme Gefühl, dass er ebenfalls Bescheid wusste. Doch wenn dem so war, behielt er es für sich. Es nützte also wenig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
»Ja, Frater Silvano hat mich ersucht, ihm bei der Behandlung einer Wöchnerin zu helfen. Du selbst bist sicher in deiner Eigenschaft als Stiftungsbeirat hier. Oder eher, weil du Kräuter abliefern willst?«
Sie deutete auf das längliche Bündel in seiner Hand, dem Kräutergeruch entströmte.
»Das eine schließt das andere nicht aus«, bemerkte Schwester Deodata spitz.
»Das stimmt«, pflichtete Onkel Lodovico ihr bei. »Ob im Sinne der Medizin oder im Sinne der Verwaltung – beides dient dem Wohle des Spitals.«
»Welche Kräuter bringst du denn heute?«
»Oh, dies und das, von vielem ein bisschen.« Onkel Lodovico lächelte jovial.
»Ihr solltet Euch nun in den Krankensaal begeben«, sagte die Nonne schroff. »Sonst ist die Patientin gestorben, bevor Ihr dem Frater gute Ratschläge für ihre Heilung erteilen könnt.«
Celestina spürte die Wut der Nonne. Sie hätte wohl besser nichts über die Kräuter gesagt, sosehr sie auch darauf brannte, mehr zu erfahren.
»Ihr habt recht, ich sollte Frater Silvano nicht warten lassen«, sagte sie daher. Mit geziemender Höflichkeit nickte sie ihrem Onkel und der Nonne zu und eilte weiter.
Die Luft im Krankensaal war stickig. Wegen des schlechten Wetters waren die Fenster geschlossen. An den Wänden brannten Talgleuchten, deren Geruch die Luft nicht besser machte. An manchen Betten standen glimmende Pfannen, in denen Kräuter verbrannt wurden. Es stank nach Ausscheidungen und Tod.
Noch nie hatte Celestina die Atmosphäre im Spital als so bedrückend empfunden. Trotz der Größe des Raums kam es ihr eng und überfüllt vor, und zum ersten Mal machte sie sich klar, dass die meisten Menschen, die hier lagen, ihre Krankheit wohl nicht überstehen würden. Der größere Teil derer, die wegen ihrer Leiden hier Aufnahme fanden, starben entweder noch im Spital oder bald darauf, wenn ihnen ohnehin nicht mehr geholfen werden konnte, zu Hause im Kreise ihrer Familie.
Celestina kam an einem Bett vorbei, in dem ein Kranker mit aufgetriebenem Leib und geschwürigen Ausschlägen sich aufrichtete und die Hand nach ihr ausstreckte. »Helft mir!«, flehte er keuchend.
Sie schrak zurück, denn seine Finger waren schwarz verfärbt und faulig, sodass sie im ersten Augenblick dachte, er habe die Pest. Sie hatte noch keine Pestkranken gesehen, aber aus den Büchern und durch Jacopos Erzählungen wusste sie, dass sich deren Haut schwarz färbte, was als Zeichen des nahenden Todes galt. Pest- und andere Seuchenkranke wurden nicht im Ospedale San Francesco behandelt, sondern in einem eigens dafür eingerichteten Haus außerhalb der Stadtmauern, wo man meist nicht viel mehr für sie tun konnte, als ihnen beim Sterben geistlichen Beistand zuteilwerden zu lassen. Die Menschen, die sich dort um die Kranken kümmerten, waren vorwiegend Nonnen oder Mönche, die entweder selbst schon die Krankheit überlebt hatten und somit davor gefeit waren, oder die im Vertrauen auf die Güte Gottes keine Ansteckung fürchteten. Celestina bewunderte sie, ebenso wie die Seuchenärzte, die sich der Aufgabe verschrieben hatten, mehr über diese Geißeln der Menschheit herauszufinden, vor allem über die Wege der Ansteckung und die Möglichkeiten ihrer Verhütung.
Von einer der Nonnen, die im Spital Pflegedienste versahen, erfuhr sie, dass der Kranke am Antoniusfeuer litt. »Er wird bald sterben, seine Füße und Hände faulen schon ab.« Die Nonne ging zu dem leise stöhnenden Kranken, um ihm kalte Umschläge aufzulegen.
Celestina fand Frater Silvano am Bett einer ausgemergelten Frau, die blicklos an die Decke starrte und unaufhörlich vor sich hin murmelte. Ihr Gesicht war hochrot vom Fieber, sie war ersichtlich nicht bei sich.
Celestina erinnerte sich nicht, sie schon vorher gesehen zu haben, dennoch kam sie ihr vage bekannt vor.
Der Mönch begrüßte Celestina erfreut. »Gut, dass Ihr kommt.«
»Nicht nur ich«, sagte sie lakonisch. »Mein werter Onkel ist ebenfalls zugegen. Eben hat er Schwester Deodata hinten im Gang wieder ein Kräuterbündel überreicht.«
»Eine bedauerliche Situation.« Der Mönch hob unbehaglich die Schultern. »Euer Onkel weiß jedoch, dass Ihr Euch hier
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