Das Mädchen aus Mantua
noch viel mehr. Wenn das, was er beim Militär durchgemacht hatte, zu irgendetwas gut war, dann dazu, dass er sich auf das Entwickeln von Strategien verstand. Sein vorgesetzter Offizier hatte ihm das von Anfang an eingebläut. Ohne Strategie bist du nichts, hatte er gesagt. Es gibt nur eines, was besser ist als eine gute Strategie: zwei davon.
Timoteo hatte nicht nur zwei, sondern ein halbes Dutzend, genug für alle Eventualitäten, und das war auch der Grund, warum er schlecht schlief, denn einige seiner Pläne hingen entscheidend von Faktoren ab, die seinem Einfluss entzogen waren.
Nach Fabrizios Vorlesung gab es eine Pause; später würden sie gemeinsam zum Spital hinübergehen, zum Anschauungsunterricht am Krankenbett. Timoteo nutzte die bis zum Aufbruch verbleibende Zeit, um mit Vigo Vespucci zu sprechen, der bereits im Bilde war. Er holte das vorbereitete Papierbündel aus seiner Tasche und reichte es ihm. »Ich habe mich kurz gehalten«, sagte er, bange hoffend, dass es nicht zu kurz war. Mehr war ihm – und William – in der knappen Zeit nicht möglich gewesen.
Vespucci blätterte die Seiten durch. »Nicht die Länge ist entscheidend, sondern der Inhalt und wie Ihr ihn vertretet.«
Das war Timoteos größte Sorge, denn hier gab es lediglich zwei Eventualitäten, von denen freilich nur eine eintreten durfte.
Wenig später brach die Gruppe der Doktoranden gemeinsam mit Professor Fabrizio zum Spital auf. Sie wurden an das Bett eines Mannes geführt, der an Gelbsucht litt. Timoteo sah zum ersten Mal einen Menschen von quittegelber Farbe, er war ebenso fasziniert wie die anderen. Sogar die Augäpfel waren gelb, ein schauriger Anblick. Während der Professor über die Wechselwirkung von Galle und Leber dozierte und die schädliche Wirkung von zu viel Schnaps auf die menschlichen Organe erläuterte, speziell bezogen auf die Leber, ging Celestina ein Stück zur Seite. Sie schritt die Reihe der Betten ab, als suche sie etwas. Timoteo sah, dass sie bei einer Kranken stehen blieb und erschüttert auf diese hinabblickte. Der Mönch trat zu ihr, und er hörte sie leise mit ihm reden, doch er verstand nicht, was sie sagten. Die Frau lag offenbar im Fieberdelirium, wie Timoteo später im Vorbeigehen sah, sie war nur noch Haut und Knochen, er hätte sie niemals wiedererkannt. Nach der Visite erzählte Celestina ihm, dass es dieselbe Frau war, die im Beisein der Scholaren entbunden und die Galeazzo später außerhalb der Stadt gefunden hatte, mitsamt dem toten Kind.
»Sie ist schon so lange hier, der Frater hat Tag für Tag um ihr Leben gekämpft«, sagte Celestina leise, während die Gruppe sich auf den Rückweg machte. »Aber nun stirbt sie doch. Diese Woche wird sie nicht mehr überleben.«
»An welcher Krankheit leidet sie?«
»Das weiß man nicht.«
Stumm dachte er darüber nach, dass gerade dieser Satz so kennzeichnend war für seinen künftigen Beruf. Man wusste es nicht. Egal, wie viele gelehrte Bücher man studierte – das fehlende Wissen war der ständige Begleiter des Arztes. Die Behandlung von Krankheiten war oft nicht mehr als ein Stochern im Nebel.
»Woran denkst du?«, fragte sie ihn.
»An zu viel auf einmal«, gab er zurück.
»Dann musst du dich auf das Wesentliche konzentrieren.« Ihr Lächeln war spitzbübisch, und auf einmal musste er lachen.
»Ja«, sagte er, während er ihr tief in die Augen blickte. »Das sollte ich wirklich tun.« Und für einen Moment gelang es ihm sogar.
Am späten Nachmittag desselben Tages
Nach dem Repetitorium begleitete er sie zum Spital, denn er traute Baldo nicht. Sie hatten vielleicht die halbe Wegstrecke zurückgelegt, als Celestina mitten im Schritt verharrte. »O nein!«
Er folgte ihrem erschrockenen Blick. Hieronimo kam dort drüben um die Ecke gebogen, hoch zu Pferde, nur ein paar Dutzend Schritte entfernt.
Ohne zu zögern nahm Celestina Reißaus. Timoteo konnte ihr nicht verdenken, dass sie unter diesen Umständen keine Zeit für ein Abschiedswort fand, und ebenso wenig ging es an, dass sie hier mit ihm stehen blieb und darauf wartete, von Hieronimo entlarvt zu werden. Und doch ärgerte es ihn, dass sie dieses Versteckspiel weiter aufrechterhielt. Zorn erfasste ihn, und mehr denn je wünschte er sich endlich klare Verhältnisse.
Die Pferdehufe klapperten auf dem Pflaster, als sein Bruder näher kam. Hieronimo blickte der sich entfernenden Gestalt nach. »War das nicht gerade Marino da Rapallo, Monna Ruzzinis Bruder?«
»Ganz recht«, sagte
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