Das Mädchen aus Mantua
»Eher sogar mehr.«
Der Professor wandte sich an die Studenten. »An welchen anatomischen Merkmalen sie das wohl gesehen hat?«
Die Hebamme setzte zu einer Antwort an, doch der Professor hob die Hand. »Dass Ihr es wisst, ist mir klar. Aber die Scholaren sollen es mir sagen.«
»Nun, wir haben ja nicht hingeschaut«, sagte einer der Studenten keck. »Wir können es daher nicht wissen.«
»Wer schauen will, der möge es tun.«
Timoteo schien es, als wolle Marino Einwände erheben, doch der Junge sagte nichts. Der Frau wäre es ohnehin gleichgültig gewesen, sie war kaum bei Bewusstsein und völlig gefangen von der Wucht der folgenden Wehe. Ihr geschwollenes Gesicht war verzerrt vor Schmerz, die Augen zusammengekniffen.
Nicht alle folgten der Aufforderung des Professors, doch Timoteo, Galeazzo und William gehörten zu denen, die sich zögernd dem Bett näherten und den Genitalbereich der Frau betrachteten. Für Timoteo war der Anblick einer Vulva nichts gänzlich Neues, doch bisher hatte er weibliche Geschlechtsteile nur an Toten oder auf anatomischen Zeichnungen gesehen. Sie nun bei einer lebendigen Frau aus nächster Nähe zu betrachten, und das auch noch während einer Geburt, war ebenso faszinierend wie verstörend. Blut, Schleim und Kot waren aus ihren Körperöffnungen ausgetreten. Besonders erschreckend war der winzige Fuß, der zwischen den geweiteten Schamlippen hervordrängte.
Timoteo zwang sich, genauer hinzuschauen. Dennoch vermochte er trotz angestrengten Nachdenkens nicht zu sagen, warum es nicht das erste Kind der Frau war. Möglicherweise gab es bei Erstgebärenden keine Steißlagen? Kurz überlegte Timoteo, diese Vermutung zu äußern, ließ es dann aber. Er hatte keine Lust, sich zu blamieren.
Auch von den anderen Studenten konnte keiner die Frage beantworten, nicht einmal William, der sonst immer alles wusste.
»Vielleicht weiß es ja der junge Herr Steinschneider?«, sagte der Professor. Timoteo meinte, eine Spur von Belustigung herauszuhören.
»Ihr Dammgewebe ist von früheren Entbindungen vernarbt«, sagte Marino. »Und die Eröffnung ging erheblich schneller vonstatten als bei einer Primipara .«
»Es trifft sich gut, dass der junge Herr Student so gut Bescheid weiß, er kann mir hierbei helfen«, sagte die Hebamme. Sie wies Marino an, wie er sich hinzustellen und was er zu tun hatte, und der Junge folgte ihr aufs Wort. Timoteo beobachtete ihn aufmerksam. Ihm schien, als handle der Junge mit solcher Umsicht und Konzentration, als hätte er bereits darauf gewartet, genau das zu tun, was die Hebamme ihm auftrug. Er schob und drückte von oben gegen die Wölbung des straff gespannten Leibes der Kreißenden, während die Hebamme von unten zugriff und ein zweites Füßchen zum Vorschein brachte.
»Jetzt aufhören, die Wehe ist vorbei«, rief die Hebamme. Sie schwitzte. Ihre Haube war verrutscht, die Schürze besudelt. Unaufgefordert brachte eine Nonne frische Tücher. »Eine reinliche Umgebung«, meinte der Professor, sich zu den Studenten umwendend, »ist bei einer Geburt höchstes Gebot. Schmutz und Unrat sind von der Kreißenden fernzuhalten, ebenso wie von jedem anderen Krankenlager.«
Er blickte flüchtig zum Nachbarbett, wo der tote Knabe lag. Eine der Nonnen hatte ein Laken über den kleinen Körper gezogen, doch es sah ohnehin kaum jemand hin.
Mittlerweile hatte die Faszination für den urtümlichen, blutigen Vorgang der Geburt alle Anwesenden gepackt.
»Jetzt«, rief die Hebamme. Unter ihren anfeuernden Zurufen bäumte die Frau sich auf und presste mit aller Kraft, unterbrochen von kehligen, verhaltenen Schreien, während Marino gegen ihren Leib drückte und die Hebamme vorsichtig an den Beinchen zog. Unmittelbar darauf wurden die Umstehenden Zeuge, wie der winzige Körper zwischen den geöffneten Beinen der Frau hervorglitt. Es war, wie alle sehen konnten, ein Junge. Die Hebamme hob das Kind hoch und gab ihm einen Klaps, worauf es einen quäkenden, dünnen Schrei ausstieß.
»Gut gemacht«, sagte sie, wobei Timoteo nicht einschätzen konnte, ob sie die Mutter oder Marino meinte.
»Was fehlt noch zur vollständigen Entbindung?«, fragte der Professor in die Runde.
Diesmal wussten mehrere der Studenten Bescheid.
»Die Nachgeburt!«, riefen einige gleichzeitig aus. Alle starrten das Kind an, das unter den Händen der Hebamme fuchtelnd die kleinen Gliedmaßen entfaltete und krähte, während sie die Nabelschnur durchtrennte und abband, das Neugeborene in ein Tuch wickelte
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