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Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest

Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest

Titel: Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John D. MacDonald
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nicht. Die Hitze war verschwunden. Die Decken fühlten sich wie Platten aus Eichenholz an, und Kirby arbeitete sich darunter hervor. Joseph stand in der Tür, beinahe in der reglosen Flamme, und zielte mit einer langläufigen Pistole, aus deren Mündung eine starre, kleine Flammenzunge ragte. Kirby bückte sich unter die Rauchschwade und suchte die Luft zwischen ihm und der Pistolenmündung ab; das kleine Projektil schwebte auf halbem Weg in der Luft. Kirby bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube. Das Geschoß war mit dreihundert Metern pro Sekunde unterwegs, zwei Meter weiter hätte es mich direkt ins Gesicht getroffen, dachte er. Wäre ich sieben Tausendstel einer Sekunde langsamer gewesen ...
    Plötzlich bemerkte er verblüfft, daß sich das Projektil sichtbar bewegte. Er warf einen Blick auf die goldene Uhr: Er hatte noch etwas mehr als eine halbe Stunde. Die Kugel war der erste Gegenstand, der sich in der roten Welt bewegte. Er ging ganz nahe heran und bestimmte ihre Geschwindigkeit. Er zählte bis zehn und sie bewegte sich um etwa zweieinhalb Zentimeter weiter. Das war ein Hinweis auf das Verhältnis, in dem die beiden Welten zueinander standen. Zwei Minuten für dreißig Zentimeter. Das entsprach einem Verhältnis von zwei Minuten zu einer Tausendstel Sekunde. Eine ganze Stunde der roten Zeit entsprach demnach drei Hundertstelsekunden wirklicher Zeit. Er erwachte unvermittelt aus seiner grüblerischen Trance. Der Rauch fühlte sich im Gesicht wie Spinnweben aus Gummi an. Er brachte das Mädchen in eine günstige Höhe, bückte sich und zog Betsy unter dem Rauch an Joseph vorbei in den Korridor. Charla stand mit besorgtem Gesicht hinter der Tür. Er empfand ihr gegenüber weder Angst, noch Haß oder Zorn, sondern nur schreckliche Ungeduld und Gereiztheit. Er ließ die schwebende Betsy im Korridor, ging zurück, griff sich die Bleischnecke aus der Luft, trug sie in den Korridor und platzierte sie vor Charlas kühler, honigfarbener Stirn. Er versetzte der Kugel einen kräftigen Stoß und ließ sie drei Zentimeter vor Charlas Stirn los. Er ging zu den Flammen zurück, bog Josephs goldbraunen Arm langsam nach oben, bis die Revolvermündung direkt unter seinem Kinn nach oben zielte; die geräuschlose blaue Flammenzunge war einen Zentimeter von seinem Unterkiefer entfernt. Er zog kräftig an Josephs Zeigefinger. Mit dem Mädchen im Schlepptau durchquerte er den Korridor bis zur Treppe, die zur Tür ins Cockpit führte. Die Tür war angelehnt. Kirby stieß sie auf, holte Betsy und zwängte sie in den Abend hinaus. Die Sonne war über dem Festland untergegangen, und sah aus wie unter Asche glosendes Feuer; die Sichtverhältnisse waren besser, als er befürchtet hatte.
    Er taumelte vor Müdigkeit, als er sie über das Dock zog und wußte nicht, wie lang er noch durchhalten würde. Er mußte einen sicheren Ort finden. Er verließ das Dock und lehnte Betsy im Dunkeln aufrecht gegen einen Baum. Er sah auf die goldene Uhr - ein paar Minuten hatte er noch. Sein Daumen lag auf der Aufziehwelle, die jetzt ein Abzug war. Die beiden verdienten den Tod. Aber Kirby hatte das seltsame Gefühl, daß es auch für ihn das Ende wäre, wenn er abdrückte. Warum sollte er ein Urteil fällen?
    Trotz seiner Müdigkeit empfand er plötzlich groteske Freude und wilde Heiterkeit. Bonny Lee war frei. Wilma war in Sicherheit. Betsy war in Sicherheit. Die Welt war wieder in Ordnung, und nichts konnte ihn aufhalten. Er drehte sich um und rannte so schnell er konnte durch das blutrote Zwielicht zurück auf die Yacht. Das Bleigeschoß berührte ihre glatte Stirn. Er schob es fort und richtete es auf die Flammen. Er zog die Pistolenmündung von Josephs Kinn fort. Die rote Zeit lief ab, gerade als er zurücktrat. Die Pistole knallte, die Flammen knisterten, Charlas veränderter Gesichtsausdruck verriet ungeheure Bestürzung. Blitzschnell ließ er die Welt wieder rot werden, und die Flammen hielten inne. Kirby betrachtete die beiden, wie es sein Onkel früher getan haben mußte. Lächerliche Menschen. Eine leichte Beute. Ein Ärgernis von mäßigem Interesse in einer habgierigen Welt. Der Tod besaß zuviel Größe und Würde, und sie verdienten ihn nicht, noch nicht. Mit der Uhr konnte er Strafen verhängen, die angemessener waren. Aber im Augenblick war er zu erschöpft, um weiterzumachen. Er fand eine Kabine und legte sich hin, stellte die Uhr auf eine ganze Stunde, postierte einen schweren Aschenbecher ein paar Zentimeter über seiner Brust und

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