Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
überhaupt gebraucht hatte. »Aber ist es nicht ein wenig unhöflich, ohne Einladung im Kopf eines anderen Menschen herumzuschnüffeln?«
Griffin blickte die Frau überrascht und empört an. »Tante Delia, wie konntest du nur!«
Die Frau rieb sich mit zwei Fingern über die Schläfe. »Ich hab’s versucht, aber sie hat mich umgehend hinausgeworfen.« Misstrauisch und anerkennend zugleich beäugte sie Finley. »Gut gemacht.«
Finley wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und da sie es sowieso nicht erklären wollte, schwieg sie einfach. Griffin nahm das Heft in die Hand und stellte sie seiner Tante, Lady Cordelia Marsden, vor, die soeben nach London zurückgekehrt war.
»Cordelia ist Telepathin«, erklärte Griffin. »Und Telekinetin. Das bedeutet …«
»Sie hat einen sehr mächtigen Geist«, fiel Finley ihm ins Wort. »Das habe ich schon bemerkt.« Die Frau hatte nicht nur versucht, in ihre Gedanken einzudringen, sondern auch noch einen Arm in Richtung der Bücherregale ausgestreckt, woraufhin ein ledergebundenes Tagebuch in ihre Hand geflogen war.
»Damit sind Sie eine Attraktion auf jeder Party«, befand Finley ein wenig schnippisch.
»Und bei Hofe«, bestätigte Lady Marsden im gleichen Ton. Sie reichte Griffin das Buch. »Sagen Sie, Miss Jayne, heißt Ihre Mutter vielleicht Mary?«
»Ja.« Finley ließ sich den Schreck nicht anmerken. »Was haben Sie sonst noch in meinem Kopf entdeckt?«
»Das Einzige, was ich dort gesehen habe, mein liebes Mädchen, war das Gesicht meines Neffen neben dem von Jack Dandy. Ich muss schon sagen, Sie haben Umgang mit interessanten Menschen.«
Als Griff sie anstarrte, errötete Finley, hielt aber dem Blick der älteren Frau stand. Griffs Tante mochte sie offenbar nicht und traute ihr nicht über den Weg. »Wie ich das sehe, geht Sie das allerdings nichts an, Madam.«
Die Frau richtete sich auf. »Solange Sie in diesem Haus sind …«
»Ist sie vor allem meine Sorge«, unterbrach Griffin sie. »Meine und nicht deine, Tante, und diese Unterhaltung schweift ab. Erkläre doch Miss Jayne und mir, woher du den Namen ihrer Mutter kennst.«
Lady Marsden lenkte ein, offenbar auch ein wenig verlegen. Zweifellos war sie es nicht gewöhnt, dass ihr Neffe vor Dritten so mit ihr sprach. »Es steht im Buch.« Sie nickte in Richtung des Bandes, der sich in Griffs Händen öffnete.
Wie von selbst blätterten sich die Seiten um, weil Griffs Tante es so wollte. Als eine Seite mit Fotos aufgeschlagen war, stoppte sie.
Getrieben von ihrer eigenen Neugier, kam Finley näher. Sie stellte sich neben den jungen Adligen und betrachtete die sepiafarbenen Bilder. Auf einem war eine kleine Gruppe Men schen zu erkennen, die neben einem seltsamen Fahrzeug stand. Es erinnerte an eine Kutsche aus Metall, die vorne mit einem großen Bohrer ausgerüstet war. Der Mann, der dicht davor stand und die Hände auf das Fahrzeug gelegt hatte, sah Griff so ähnlich, dass es sich nur um seinen Vater handeln konnte, den verstorbenen Herzog. Auf die anderen Leute achtete Finley kaum noch, nachdem ihr Blick auf den Mann und die Frau gefallen war, die am weitesten entfernt standen. Den Mann kannte sie nicht, wohl aber die Frau. Das Foto war vor gut zwanzig Jahren aufgenommen worden, doch das Gesicht ihrer Mutter erkannte sie sofort.
Erstaunt hob sie den Kopf und bemerkte, dass Griff sie aufmerksam beobachtet hatte. »Das ist meine Mutter«, erklärte sie überflüssigerweise.
Lady Marsden nickte. »Genau.«
»Wer ist der Mann neben ihr?«, wollte Griffin wissen.
Seine Tante lächelte mit schmalen Lippen. »Das dürfte Thomas Sheppard sein. Er war ein großer Wissenschaftler.« Ihr Blick wanderte zu Finley. »Marys Ehemann.«
Finley hatte das Gefühl, ihr Magen wäre in den Keller gestürzt. »Das hieße doch …«
Lady Marsden nickte abermals. »Er war Ihr Vater.«
Für die Mädchen, die stets in Ohnmacht fielen, sobald sich etwas Fantastisches oder Überraschendes ereignete, hatte Finley bisher nur Verachtung empfunden. In diesem Augenblick wurden jedoch auch ihr die Knie weich. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie tastete nach Griffs Arm, um sich festzuhalten.
Bisher hatte sie noch nie ein Foto ihres Vaters gesehen. Ihre Mutter hatte behauptet, es gebe keines.
»Mein Vater hieß aber Thomas Jayne und nicht Thomas Sheppard«, wandte sie ein. Sogar in ihren eigenen Ohren klang es wie eine Lüge. Sie sah Thomas Sheppard sehr ähnlich, und das war Beweis genug.
»Vielleicht sollten wir uns an
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