Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Beherrschung, sich ihren Hass nicht anmerken zu lassen, dass man sie in dieser Weise benutzen wollte.
»Und was, wenn die Hugenotten die Wahrheit herausbekommen und erfahren, was ich tue?«, fragte sie schließlich ruhig.
Lebrun zog die Brauen hoch. »Ein gewisses Risiko wird leider nicht zu vermeiden sein … Wir werden dich aber in den nächsten Wochen gründlich darauf vorbereiten, um das, soweit es geht, zu verhindern!«, teilte er ihr nüchtern mit.
»Tatsächlich? Werdet Ihr mir beibringen, wie man mit Waffen und Gift umgeht?«, fragte Madeleine spitz.
Lebrun ignorierte ihren bissigen Unterton. »Nein. Es würde dir nur deine Natürlichkeit nehmen, wenn du das könntest, und du würdest dadurch weniger glaubwürdig wirken. Außerdem wirst du vermutlich kaum in die Verlegenheit kommen, in irgend einer Form Gewalt anwenden zu müssen«, erklärte er. Sein Blick fiel auf ihre Hände, die sich in den Falten ihres Rocks verkrampft hatten. »Glaub mir, ich weiß, was in dir vorgeht. Du solltest wissen, dass die wenigsten Informanten freiwillig in unseren Dienst treten. Und auch du verschwendest nur deine Kraft, wenn du überlegst, wie du dieser Situation entkommen könntest!«
Sie schwieg.
Er lächelte kühl. »Ich weiß, dass du wahrscheinlich gerade darüber nachdenkst, wie du fliehen kannst, wenn du erst bei den Hugenotten bist. Aber es gibt kein Entkommen, Madeleine. Egal, wo du auch bist, wenn du versuchst, uns zu betrügen – wir werden dich finden.« Seine Stimme war ruhig und wie immer beängstigend gefühllos, während er sprach und sie ihn versteinert anblickte.
»Glaubt Ihr, das hätte ich nicht verstanden?«, erwiderte sie.
Der Geheimdienstchef, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, tippte die Fingerspitzen gegeneinander. Er nickte väterlich, als würde er mit einem uneinsichtigen Kind sprechen. »Ja, das denke ich in der Tat. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass du den wahnwitzigen Gedanken hegst, dich bei deiner Rückkehr deinen hugenottischen Freunden anzuvertrauen, ihnen zu erzählen, wozu wir dich zwingen …«
Madeleine spürte, wie sie bei seinen Worten erschrak, denn in der Tat hatte sie genau darüber nachgedacht.
»Nun, falls dem so sein sollte«, fuhr Lebrun fort und beugte sich dabei ein Stück zu ihr vor, »dann möchte ich dir gleich sagen, dass wir das über kurz oder lang durch unsere anderen Informanten vor Ort erfahren würden und ich in diesem Fall nicht zögern würde, die Hugenotten wissen zu lassen, wer und was du wirklich bist!«
Madeleine gefror unter seinem Blick plötzlich das Blut in den Adern. Wortlos hatte Lebrun eine Mappe aufgeschlagen, die vor ihm auf dem Tisch lag, und schob sie nun zu ihr.
»Nämlich eine Frau, in deren Adern das Blut einer Hexe fließt …«.
Sie blickte ihn bestürzt an.
»Lies!«, forderte er sie auf.
Sie starrte auf die klein geschriebene Schrift und brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass das Geschriebene nicht in französischer, sondern in deutscher Sprache verfasst war und es sich dabei offensichtlich um das Protokoll einer Gerichtsakte handelte. Dann begann sie zu lesen. Ihr Gesicht nahm erst einen ungläubigen und schließlich zunehmend entsetzten Ausdruck an.
Als sie aufhörte zu lesen, war ihr Gesicht bleich, und sie fühlte eine schreckliche Übelkeit. Sie ignorierte den Becher Wasser, den der Geheimdienstchef ihr hinstellte.
Tränen standen in ihren Augen. »Ich hasse Euch«, sagte sie leise.
Lebruns Miene war undurchdringlich. »Ich weiß, aber es wird dich davor bewahren, auf dumme Gedanken zu kommen!«
86
E s gelang ihr, den rebellierenden Magen unter Kontrolle zu halten, bis sie in ihrem Gemach angekommen war. Dann übergab sie sich. Keuchend hielt sie sich über der Waschschüssel die Seiten, während die Tränen über ihr Gesicht strömten.
Die Beschreibungen der grausamen Folterungen geisterten durch ihren Kopf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Wer tat einem Menschen solche Dinge an? Wer konnte zu so etwas nur fähig sein? Das Leiden dieser Frau erschien Madeleine mit einem Mal so nah und wirklich, als wäre sie selbst dabei gewesen. Sie war ihre Großmutter! Warum hatte ihre Mutter nur nie erzählt, was mit ihr geschehen war? Immer wieder sah Madeleine die letzten beiden Sätze vor sich:
Die Angeklagte wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das Urteil wurde am 28. August 1550 zu Zweibrücken vollstreckt.
In kleiner, aber akkurater Handschrift hatte die Notiz unter der Kopie dieses
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