Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
betroffen an. Wer vergiftete einen Zwerg, dessen einzige Aufgabe es gewesen war, für das Vergnügen seiner mächtigen Herrin zu sorgen? »Hat man einen Verdacht, wer es getan haben könnte?«
Der Chirurg zuckte die Achseln. »Nein, der Wein war wohl ein Geschenk. Er kann ihn von überall her bekommen haben! Seht Ihr, am Hof gibt es viele Machenschaften und Intrigen, und Gift ist leider Gottes ein nur allzu beliebtes Mittel, um jemanden Unliebsames aus dem Weg zu schaffen.«
Madeleine schwieg. Ohnehin schien der Tod von Pierre in diesen Tagen keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Der König und sein Hof waren zu sehr mit dem Krieg beschäftigt, der inzwischen ganz Frankreich ergriffen hatte. Es wurde überall gekämpft – im Poitou genauso wie in der Dauphiné und der Cham pagne. Der König war dabei, eine Armee von siebzigtausend Mann zu mobilisieren, während die Truppen des Prinzen de Condé auf die Unterstützung des kurpfälzischen Fürsten Friedrich III. warteten, der ihnen sechstausend berittene Mann und dreitausend Landsknechte durch seinen Sohn schicken ließ. Voller Schrecken hörte Madeleine diese Nachrichten.
An einem der nächsten Tage erschien Lebrun bei ihr und teilte ihr mit, dass die Königinmutter sie zu sehen verlangte.
»Wie geht es dir? Wir haben uns einige Zeit nicht gesehen«, begrüßte die Medici sie mit süßlicher Freundlichkeit, als wenn nichts geschehen wäre. Sie bedeutete ihr, neben ihr auf einem Schemel am Kamin Platz zu nehmen.
»Ich will ehrlich sein, ich war etwas enttäuscht, als du damals nicht in der Lage warst, etwas über die Schlacht von St. Denis zu sehen«, sagte sie. Ihre beringten Finger strichen über die Federn ihres Fächers. Dann blickte sie Madeleine an. »Bist du uns dankbar dafür, dass wir dich aus den Händen der Guise gerettet haben?«, fragte sie plötzlich.
»Ja, Euer Majestät, das bin ich. Ohne Euch wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben«, erwiderte Madeleine ehrlich.
»Und diese Dankbarkeit würdest du uns sicherlich jederzeit beweisen, wenn es etwas gäbe, das du für deinen König und Frankreich tun könntest, nicht wahr?«, fuhr die Medici lächelnd fort.
Madeleines Kehle fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an. Sie hatte das ungute Gefühl, geradewegs in eine Falle getappt zu sein.
Der Geheimdienstchef beobachtete sie aus dem Hintergrund mit stechendem Blick.
Sie nickte erneut höflich.
Die Medici lächelte flüchtig. »Nun, ich habe nichts anderes erwartet, aber es freut mich, das zu hören«, sagte sie. Sie ließ den Fächer in ihren Händen zusammenklappen. »Siehst du, Monsieur Ruggieri war von Anfang an überzeugt davon, dass du von ganz besonderem Nutzen für uns sein wirst, und ich habe immer gedacht, dass er damit deine Gabe meinte … aber inzwischen habe ich begriffen, dass du uns auf anderem Weg viel dienlicher sein wirst!«
»Ich verstehe nicht ganz, was Ihr meint«, sagte Madeleine vorsichtig.
»Wir möchten, dass du wieder zu den Hugenotten zurückkehrst«, meldete sich eine tiefe Stimme. Lebrun war neben sie getreten.
Sie schaute den Geheimdienstchef verwirrt an. »Zu den Hugenotten? Aber es herrscht doch Krieg«, meinte sie.
»Nun, wir hoffen, nicht mehr lange«, erwiderte die Medici. »Es gibt im Geheimen bereits die ersten Anbahnungen von Friedensverhandlungen. Dieser Krieg im eigenen Land kann von keiner der beiden Seiten gewonnen werden«, erklärte sie zu Madeleines Überraschung.
»Wir möchten, dass du nach Châtillon zurückkehrst und uns dort als Informantin dienst«, fügte Lebrun hinzu.
»Ihr meint als Spionin?«, entfuhr es Madeleine, die zu begreifen begann, worauf die beiden hinauswollten.
Die schwarzen Augenbrauen des Geheimdienstchefs zogen sich nach oben. »Ich persönlich schätze das Wort nicht besonders, aber wenn du so willst, ja! … Du bist wie ein Geschenk für uns, weil die Protestanten dir vertrauen!«
Madeleine verspürte einen leichten Schwindel.
»Du würdest dem König und deinem Land einen großen Dienst erweisen. Siehst du, Frauen sind schon immer meine besten Informanten gewesen«, sagte die Königinmutter sanft.
Madeleine blickte sie an. Was hatte sie erwartet? Sie hatte gehört, dass die Medici selbst ihre Söhne zuweilen auf diese Weise ausspionieren ließ. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass die Königinmutter sie nicht aus Menschenliebe hier am Hofe leben ließ, sondern dafür eine Gegenleistung verlangen würde.
»Aber ich bin Wochen weg gewesen. Wie soll
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