Das Maedchen mit den Schmetterlingen
jemanden vorbeischicken würde, auf diese Art von Aufmerksamkeit konnte sie verzichten. Vor allem wegen Seán. Jede Form von Besuch war ihm ein Gräuel, nicht einmal die Nachbarn durfte Kate einladen.
Deirdre O’Connell stellte ihren kleinen Fuß in die Tür, die Kate gerade wieder zuschieben wollte.
»Ähm, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich sie
mir gerne selber ansehen, für meinen Bericht, verstehen Sie, Mrs. …?«
»Miss … äh … Kate. Ich bin Tess’ Schwester.«
Kate witterte, dass mit dieser Frau nicht zu spaßen war. Sie machte die Tür auf, trat beiseite und ließ die zierliche Gemeindeschwester eintreten.
»Sie ist in ihrem Zimmer. Warten Sie hier, ich hole sie«, sagte sie mürrisch. Schlagartig wurde ihr klar, dass Tess’ Gegenwart das ruhige berechenbare Leben, das sie und Seán bis jetzt geführt hatten, gehörig durcheinanderwirbeln würde.
Deirdre O’Connell blieb an der Haustür stehen. Der Flur führte in eine winzige, altmodisch eingerichtete Küche. Sie sah sich um und stellte fest, dass es im Haus nicht besonders sauber und ordentlich war. Sie wusste, dass noch ein zweites autistisches Kind zur Familie gehörte. Ob die ältere Schwester, die sie nur widerwillig ins Haus gelassen hatte, der Verantwortung überhaupt gewachsen war? Sie war es gewöhnt, eher zurückhaltend empfangen zu werden. Die meisten Menschen begegneten den Hilfsangeboten des Gesundheitsamtes mit Skepsis, in erster Linie, weil sie nichts kosteten.
Deirdre drehte sich um und stellte fest, dass Tess mittlerweile hinter ihr stand und sie anstarrte.
»Hallo, Teresa. Ich bin Schwester O’Connell. Dr. Cosgrove hat mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen.«
»Bei mir vorbeischauen?«, wiederholte Tess und neigte den Kopf zur Seite, wie immer, wenn sie etwas nicht verstand.
»Sie kann solche Ausdrücke nicht verstehen«, sprang Kate ihr bei, der es mittlerweile leidtat, die Schwester so unwirsch empfangen zu haben. Schließlich machte sie ja nur ihre Arbeit.
»Aber natürlich! Entschuldige. Darf ich Tess zu dir sagen?«, fragte Deirdre.
Tess nickte und wartete auf eine Erklärung, was »bei dir vorbeischauen« bedeuten sollte.
»Was ich damit sagen will: Ich möchte gerne wissen, wie es dir geht«, fuhr Deirdre hastig fort.
Tess fragte sich, warum die Leute so merkwürdige Ausdrücke für Dinge benutzten, die man sehr viel einfacher ausdrücken konnte.
»Tess, ich bin die Gemeindeschwester in diesem Bezirk. Ich wollte dich fragen, ob ich dich vielleicht ab und zu besuchen darf? Ich habe sehr viel Erfahrung im Umgang mit Menschen, die …« Deirdre unterbrach sich. Sie war sich nicht sicher, ob Tess sich ihrer Störung bewusst war, und warf einen Blick auf Kate, die nickte. »… die an Autismus leiden. Ich könnte versuchen, dir zu helfen …«
Tess nickte und ging zurück in ihr Zimmer. Sie wollte ihr Bild fertig malen. Auf ihrer Kommode lag ein großes Blatt Papier. Darauf hatte sie Kate gemalt, die in der Küche an der Spüle stand und auf die Weide hinausblickte. Seán saß in einem Sessel neben dem Ofen. Er hatte dem Betrachter den Rücken zugekehrt, während ein mundloser Ben in der Ecke hockte und ins Leere starrte. Durch das Küchenfenster war undeutlich ein winzig kleiner Dermot zu erkennen, der auf das Haus zukam.
Kate bot der Frau eine Tasse Tee an und hoffte, dass Seán nicht auftauchte, solange sie Besuch hatte.
Deirdre nahm das Angebot an. Kate setzte den Tee auf und nahm am Tisch Platz.
»Ich bin zwar zum ersten Mal hier, aber mir scheint, Sie haben wirklich alle Hände voll zu tun. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?«, erkundigte sich die Gemeindeschwester pflichtschuldig.
»Nein, nein, ich meine, manchmal ist es schon sehr schwer,
aber ich bin daran gewöhnt«, erwiderte Kate und ließ den Kopf ein wenig sinken. Es kam nicht oft vor, dass andere sich nach ihrem Befinden erkundigten, und sie stellte verärgert fest, dass sie gerührt war.
»Was ist denn mit Ihrem kleinen Bruder … geht er zur Schule?«, fragte die Gemeindeschwester und tat so, als hätte sie Kates Tränen nicht bemerkt. Sie ahnte, was in Kate Byrne vorging. Wenn sie bereits bei der ersten Begegnung die Fassung verlor, würde ihr Stolz ihr verbieten, Deirdre regelmäßig zu empfangen.
»Ja«, erwiderte Kate und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen. »Jeden Tag. Der Bus holt ihn ab. Im Juni wird er dreizehn. Er ist aber noch sehr unselbständig und jetzt, wo Tess hier ist …«
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