Das Maedchen mit den Schmetterlingen
die Uhr von Kate und einer widerstrebenden Tess betreut wurde.
Kapitel 27
1974
N ach zweieinhalb Jahren in der Anstalt hatte Tess alle Hoffnung aufgegeben, ihre Familie jemals wiederzusehen. Die Pflegekräfte wussten, dass sie ihr die Geschenke, die ihre Schwester jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten schickte, nicht aushändigen durften, um nicht einen massiven, von Selbstverletzungen begleiteten Wutanfall zu riskieren, dem jedes Mal eine lange Phase vollkommener Verweigerung folgte, in der sie nicht einmal mit Leroy oder Dr. Cosgrove redete.
Nachdem Cosgrove Tess’ Angehörige mehrfach schriftlich zu einem Gespräch gebeten und nie eine Reaktion erhalten hatte, beantragte er Tess’ Verlegung in ein Kinderheim. Seinem Eindruck nach gehörte sie nicht in eine psychiatrische Einrichtung, aber die Heime waren alle belegt, und so hatte er keine andere Wahl gehabt, als sie hierzubehalten. Er hatte es aufgegeben, mit ihr über die Ermordung ihres Vaters zu sprechen. Das Kind hatte keinerlei Erinnerung an das Ereignis und reagierte vollkommen verstört, sobald das Thema angeschnitten wurde. Tess besuchte also die Anstaltsschule und erwies sich als kluge Schülerin, deren Leistungen alle Erwartungen übertrafen. Cosgrove ließ sie auch weiterhin von den anderen getrennt in einem Einzelzimmer schlafen, aber nicht, weil er sie für eine Gefahr für die anderen hielt. Vielmehr hatte er das Gefühl, dass ihr mangelhaftes Verständnis für angemessenes
Verhalten schuld war an den ständigen Streitereien mit anderen Kindern. Außerdem wusste er auch, dass sie lieber alleine war und Ruhe brauchte, um ungestört nachdenken zu können. Cosgrove machte sich Sorgen um sie, da Leroy am Ende der Woche entlassen wurde. Ohne ihn, das wusste Cosgrove, war sie verloren. Er hatte es ihr schon mitgeteilt, doch sie hatte nicht darauf reagiert und war summend weggegangen. Kein gutes Zeichen, wie er wusste. Einige Tage später versammelten sich Personal und Patienten, um Leroys Abschied und gleichzeitig seinen sechzehnten Geburtstag zu feiern. Lächelnd pustete er die Kerzen auf dem Kuchen aus. Als die Aufregung sich gelegt hatte und die Kinder in ihren Schlafsälen waren, erhielten Tess und Leroy die Erlaubnis, sich vor dem Schwesternzimmer zusammen auf die Bank zu setzen.
»Ich schreibe dir, Tess«, sagte Leroy mit gesenktem Kopf, um seine Tränen zu verbergen.
»Pass auf, dass du keine Rechtschreibfehler machst«, erwiderte Tess nüchtern und starrte ins Leere, was ihm hinter seinem Tränenschleier ein Lächeln entlockte.
Sie summte leise, schaukelte sachte vor und zurück und knetete im Takt die Hände. Das Gespräch verstummte, und Leroy empfand die Stille als beklemmend.
»Meine Mam hat für uns eine Wohnung in der Stadt gefunden. Mit zwei Schlafzimmern«, bemerkte er befangen, obwohl er genau wusste, dass Tess über seine Entlassung nicht sprechen wollte.
»Leroy?«
»Ja, Tess?«
»Bist du jetzt normal?«
»Was?«
»Bist du jetzt normal? Musst du doch sein, wenn sie dich nach Hause gehen lassen.«
Leroy warf seiner Freundin ein scheues, trauriges Lächeln zu. »Solange die Leute mich in Ruhe lassen, bin ich ganz normal. Genau wie du, Tess. Vergiss das nicht. Erst wenn die anderen uns was antun, schlagen wir zurück.« Er räusperte sich und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Er hatte etwas auf dem Herzen. »Tess, darf ich dir einen Kuss geben?«
»Nein.« Tess wandte sich hastig ab.
»Bitte. Es tut nicht weh. Versprochen.«
Tess nickte und schloss die Augen, so wie sie es bei Kate gesehen hatte, als Noel sie vor der Haustür zum Abschied geküsst hatte. Ihr Herz klopfte. Leroy beugte sich vor. Die Krankenschwester räusperte sich vernehmlich, um ihn daran zu erinnern, dass sie ein wachsames Auge auf ihn hatte, während er Tess einen sanften Kuss auf die Lippen drückte. Tess wich zurück, als hätte die Berührung ihr wehgetan, und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Leroy musste lachen.
»War das dein erster Kuss, Tess?«
»Ja«, erwiderte sie und rieb sich immer noch den Mund.
»Hat es dir gefallen?«
»Nein, es brennt.« Sie sah ihn nicht an und nahm ihr Summen wieder auf.
Leroy lachte auf, er hätte seine seltsame Freundin am liebsten in den Arm genommen, aber er wusste, dass sie sich wehren würde, und war froh, dass sie ihm wenigstens den Kuss gestattet hatte.
Die Schwester kam hinter dem Tresen hervor. Sie musste verhindern, dass Leroy zu weit ging. Schließlich war Tess noch
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