Das Maedchen mit den Schmetterlingen
nicht einmal dreizehn.
»Auf, auf, Zeit, ins Bett zu gehen. Leroy, du gehst wieder auf deine Station.«
Leroy kämpfte erneut mit den Tränen.
»Mach’s gut, Tess. Ich werde dich nie vergessen.«
Tess stand auf und nickte. Sie starrte ihren Freund an, die Arme dicht an den Körper gepresst. Wortlos drehte sie sich um und ließ Leroy im kalten Korridor stehen.
Nach Leroys Entlassung zog Tess sich völlig zurück und fing an, sich in Bereichen der Klinik zu verstecken, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hatte.
Als Leroy noch da war, hatte sie die gemeinsamen Sing- und Spielabende an der Seite ihres besten Freundes, dem diese Veranstaltungen offenbar Spaß machten, irgendwie überstanden. Wenn er neben ihr saß, brauchte sie nichts zu sagen, und niemand erwartete von ihr, dass sie mitmachte, was ihr ohnehin lieber war, weil sie den Sinn der Spiele nicht verstand, vor allem, wenn es keinen Sieger gab.
Schon vor langer Zeit hatte sie durch Zufall einen Ort entdeckt, an dem sie ungestört war. Die Treppe am Ende ihres Korridors führte hinunter in einen kleinen Flur mit den Umkleideräumen für das Küchenpersonal, die immer abgeschlossen waren. Tess versteckte sich unter der Treppe und wartete, bis jemand aus der Küche in einen der Umkleideräume ging. Sobald die schwere Tür mit dem Schnappschloss offen stand, schlüpfte Tess hinein und gelangte von dort zu den leerstehenden feuchten Schlafsälen im ältesten Teil der Klinik. Alleine streifte sie durch die kalten, dunklen Korridore und war froh, den lärmenden Kindern auf ihrer Station entronnen zu sein. Einer der Schlafsäle zeigte zu einem verwilderten Garten hinaus, der von Gebüsch und hohen Bäumen überwuchert war, und Tess saß gerne auf dem Fensterbrett und malte in der Stille, während der Tag langsam zur Neige ging. Sie traute sich aber nie in den Schlafsaal am Ende des Korridors, weil ein Junge behauptete, er zeige zu einem alten Kinderfriedhof hinaus, und sie hatte Angst vor Gespenstern. Wenn
sie keine Lust mehr hatte zu malen, lief sie durch das Labyrinth der Gänge zurück und freute sich am Echo ihrer Stimme, das durch die leeren Korridore hallte. Dann setzte sie sich irgendwo auf den Fußboden und summte bis zum Einbruch der Dunkelheit vor sich hin, bevor sie an den Räumen vorbei, die mittlerweile als Büros genutzt wurden, zu einer großen, braunen Tür gelangte, die direkt ins Foyer führte. Dort ließ sie sich schließlich vom Klinikpersonal »finden«.
Obwohl ihr die Einsamkeit dieser ausgedienten Schlafsäle gefiel, hätte Tess sich lieber in ihrem eigenen Zimmer aufgehalten, was ihr aber verboten war. Sie sollte sich unter die anderen Kinder mischen und Freundschaften schließen, doch Tess wusste gar nicht, wie man Freundschaften schließt. Wenn sie mit den anderen über Schmetterlinge reden wollte, interessierte sich keiner dafür, genau wie Seán und Kate, was Tess einfach nicht verstehen konnte. Wenn die Schwestern sie schließlich im Foyer entdeckten, wunderten sie sich jedes Mal, wie Tess hierhergekommen war, aber sie hatten die Hoffnung längst aufgegeben, Tess das Geheimnis zu entlocken.
Kapitel 28
1981
S chon zum zweiten Mal in dieser Woche rief Kate bei Dr. Doyle an und bat um einen Hausbesuch bei Seán. Der Zustand ihres Bruders verschlechterte sich zusehends, und sie war, trotz Dermots Hilfe, nicht in der Lage gewesen, ihn in die Praxis zu schaffen. Mehrmals hatte sie Seán aus dem Lieferwagen zerren müssen, als er zum Trinken ins Dorf fahren wollte. Einmal hatte er sie trotz seiner zunehmenden Schwäche mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Sofort war Dermot zur Stelle gewesen, um sie zu beschützen, und hatte erst eingelenkt, als sie ihm zu verstehen gab, dass nichts weiter passiert war.
Mittlerweile bot ihr Bruder mit seiner fahlen Haut und den verfaulten Zähnen einen unerträglichen Anblick. Er aß kaum noch, und abgesehen von seinem aufgeblähten Bauch bestand er nur aus Haut und Knochen. Er rasierte sich nicht und badete nicht, und Kate versuchte in der Regel, ihn noch schnell zu waschen, wenn der Arzt oder die Schwester kamen. Auch der geistige Verfall war nicht zu übersehen. Kate konnte seine verwaschene Sprache kaum mehr verstehen, nur manchmal hörte sie ihn Tess’ Namen brüllen. Dann rannte sie in sein Zimmer, wo er mit dem Zeigefinger in die Luft stocherte und so unflätig fluchte, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Er war stark dehydriert, und als Dr. Doyle vorschlug,
ihn
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