Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Aufmerksamkeit zu erregen.
Beim Anfahren warf er einen Blick in den Rückspiegel, ob ihm jemand folgte, obwohl er sich aber ein bisschen lächerlich vorkam. Die Wunde unter seinem Auge blutete jetzt heftiger. Gefasst auf ein neuerliches ausgedehntes Verhör durch Mona, verbrachte er den Rest der Fahrt damit, sich eine Geschichte auszudenken, die sogar sie schlucken würde.
Kate war besorgt. Das Schulungszentrum hatte geschrieben, dass man einen Platz für ein Berufspraktikum im Marshall’s Art and Craft Centre in Glenmire für Tess gefunden hatte, einer Kleinstadt ungefähr dreißig Kilometer von Árd Glen entfernt. Die Vorstellung, Tess in eine Stadt zu schicken, wo keiner ihre Probleme kannte, gefiel Kate überhaupt nicht. In ihrem Kurs in Knockbeg gab es zumindest ein paar Frauen, die hier aus der Gegend stammten und über die familiären Verhältnisse
Bescheid wussten. Schwester O’Connell versuchte, ihre Ängste zu zerstreuen, und erinnerte sie daran, wie besorgt sie gewesen war, als Tess mit dem Kurs begonnen hatte. Und tatsächlich hatte Kate mit großer Freude festgestellt, wie ihre Schwester aufblühte. Die Aussicht auf das zweiwöchige Berufspraktikum versetzte sie zwar in helle Aufregeung, aber gleichzeitig freute sie sich unbändig über ihren »ersten Job«. Schließlich gab Kate ihre Zustimmung. Sie war froh, dass es keine tägliche Busverbindung nach Glenmire gab und Dermot Tess daher jeden Tag hinbringen und wieder abholen musste. Das Praktikum sollte ohnehin erst in vier Wochen beginnen. Vielleicht traute sie sich selbst bis dahin schon zu, Tess zu fahren.
Tess war überglücklich, dass ihre Schwester eingewilligt hatte, und hüpfte aufgeregt im Zimmer umher. Sie brannte darauf, ihrem Chef zu zeigen, wie gut sie Schreibmaschine schreiben und Telefongespräche entgegennehmen konnte. Als ihr allmählich bewusst wurde, welche Veränderungen damit auf sie zukamen, verzog sie sich in ihr Zimmer und erstellte Listen mit sämtlichen Dingen, die schiefgehen konnten.
Am Nachmittag besuchte Kate ihren Bruder im Krankenhaus. Er saß aufrecht im Bett, aus einer Flasche tropfte Flüssigkeit in eine Vene in seinem linken Arm, und seine Haut war mit einer hellen, rosafarbenen Creme bedeckt. Er war frisch rasiert und gewaschen und schien bereits ein bisschen zugenommen zu haben. In der ersten Woche hatte Kate ihn nicht besucht und behauptet, dass Ben krank sei und sie keine Infektion ins Krankenhaus einschleppen wollte. In Wirklichkeit konnte sie seinen trostlosen Anblick nicht ertragen, und außerdem hatte sie noch nicht verwunden dass er sie ins Gesicht geschlagen hatte. Ob er böse war, dass sie ihn nicht früher besucht hatte, war schwer zu sagen, sein schläfriger, apathischer
Blick, mit dem er sie begrüßte, verriet nichts. Sie sah sich im Krankensaal um. Zu beiden Seiten des Raumes stand eine lange Reihe mit Betten, jedes Bett direkt unter einem hohen, schmalen Fenster. Der Raum war sparsam eingerichtet und sauber, die Betten waren mit frischen weißen Laken bezogen und hatten einen kleinen, hölzernen Schrank zur Seite. Es gab weder Blumen noch Farben, und es war totenstill. Ein paar Männer schliefen, und Kate fragte sich, ob Seán vielleicht ein Beruhigungsmittel bekommen hatte, weil seine Lider nur halb geöffnet waren.
Sie erzählte ihm, dass sie gerade Auto fahren lernte, und er horchte auf. Sie berichtete ihm auch von Tess’ Berufspraktikum, merkte aber schnell, dass er von seiner jüngsten Schwester nichts hören wollte. Er erkundigte sich nach dem Hof. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er ein Interesse an ihrem Betrieb äußerte. Vielleicht wurde er ja tatsächlich wieder gesund, wurde wieder zu dem Mann, der er einmal gewesen war.
Nachdem sie eine Weile an seinem Bett gesessen hatte, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Sie stand auf und war ihm Begriff zu gehen, als er leise nach ihrer Hand griff und sie drückte. In seinen Augen standen Tränen. Als Kate ihn fragte, was ihn bedrückte, schüttelte er nur den Kopf. Sie küsste ihn auf die Stirn - was schon lange nicht mehr vorgekommen war - und versprach, in ein paar Tagen wiederzukommen. Am Ende des großen, altmodischen Krankensaals drehte sie sich noch einmal um. Seán hatte mühsam die Hand zum Gruß erhoben und lächelte. Sie winkte zurück und verließ zögernd den Schlafsaal, lief die endlosen Korridore hinunter zum Ausgang und weinte auf dem ganzen Weg nach Hause.
Tess war völlig aus dem Häuschen. Sie hatte alle
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