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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Das Piefel war gegangen. Von der Dunkelheit angezogen, war es zu dem hohlen Felsen in der Wüste zurückgekehrt.
    Tanaquil verspürte einen Stich der Besorgnis. Sie war verantwortlich für das Piefel. Sie bestanden dieses Abenteuer gemeinsam. Aber nein, das war ja töricht. Wer konnte schon ein Piefel kontrollieren?
    Als sie die Lampe entzündete, wurde der Schimmer des Skeletts schwächer.
    »Ich werde einfach weitermachen«, sprach sie laut vor sich hin.
    Sie stellte sich vor, der Sand in dem hohlen Berg würde wieder nachgeben und das Piefel unter sich begraben. Grimmig kletterte sie erneut auf ihren Arbeitstisch und machte sich daran, die Haken im Deckenbalken zu verankern.
    Wie langsam die Nacht doch verging.
    Hatte sie jemals zuvor eine schlaflose Nacht verbracht? Tanaquil konnte sich an keine erinnern. Unzufriedenheit und Langeweile hatten sie immer gut schlafen lassen. Und nun war sie überhaupt nicht gelangweilt, vielmehr hellwach, gespannt und sehr besorgt. Sie hatte alles erledigt, was sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Werkzeugen erledigen konnte. Morgen würde sie den Schmied aufsuchen, einen der Soldaten, und sie hoffte, daß er nicht zu betrunken sein würde, um die Esse zu entzünden. Mit ihren genauen Anweisungen sollte es ihm gelingen, jene Teile zu fabrizieren, die sie benötigte, um das Knochenwesen wieder vollständig zu machen. Eine wilde Idee war ihr gekommen. Man könnte womöglich Zahnrädchen und Scheiben, Scharniere und dünne Bronzeschafte in das Skelett, in seine Beine, Kuppe und Wirbelsäule einfügen. Vielleicht wäre es möglich, es zu bewegen, es gehen und springen zu machen, es mit den Hufen auf den Boden treten, den Kopf schütteln und den schlanken Schwanz peitschen zu lassen. Wenn sie es geschickt anging, würde der Schmied zu der Auffassung kommen müssen, sie brauche die Teile nur für die Reparatur einer weiteren, etwas komplexeren Uhr.
    Als sie alles vorbereitet hatte, was sie vorbereiten konnte, war die Nacht in die schwarzen Stunden des frühen Morgens hinübergeglitten. Der Mond war auf- und wieder untergegangen. Der Schnee war gefallen und festgefroren. Immer noch zitternd hatte Tanaquil ein Feuer im Kamin aufgeschichtet und entzündet.
    Sie ließ die Fensterläden offenstehen. Manchmal knirschten sie, und dann blickte sie auf - aber kein Piefel war zu sehen.
    Am Morgen würde sie sich aufmachen und nach ihm suchen, auf den Dächern, in der Felskette. Es war hoffnungslos, es nun zu versuchen, die Kälte würde unüberwindlich sein. Sie konnte noch nicht einmal ihre Wolljacke oder einen Mantel finden.
    Schließlich, im stumpfen Licht des Feuers, ergriff sie eine zweite Decke, um den geheimnisvollen Glanz des Skeletts zu dämpfen, löschte ihre Lampe und ging zu Bett. Sie lag wach und sah auf den gewöhnlichen Schein des Kaminfeuers an der Decke.
    Dann befand sie sich draußen in der Wüste, eilte über den Reifschnee auf die Festung zu, und von oben hörte sie die Schreie der Soldaten, die mit ihren Armbrüsten auf sie feuerten, sie aber verfehlten. Da erwachte Tanaquil halbwegs und hörte wirklich das Klappern und Rufen der Soldaten. Doch das war nichts Ungewöhnliches. Sie sahen dauernd Dinge, die es gar nicht gab, und feuerten auf sie. Sie bekam einen erstickten Schrei mit: »Du Idiot, es ist nur das Geisterlicht auf dem Schnee!«
    Dann schlief sie wieder und stand auf dem hohlen Felsen, der wie eine Brücke geformt war. Über dem Horizont im Westen ging der Mond, der soeben untergegangen war, wieder auf. Sie sah ihm zu, und dann öffnete sie ihre Augen.
    Wieder war ein wenig Zeit vergangen. Das Feuer war ausgebrannt. Der Raum hätte eigentlich stockdunkel sein müssen, lag aber in Licht getaucht. Der Mond schien durch das Fenster hinein.
    Und dann entdeckte Tanaquil das Piefel, das am Fuß ihres Bettes stand. Es glich beinahe der Szene vom gestrigen Abend, außer, daß sie diesmal das Fenster für das Tier offengelassen hatte. Außer, daß das Piefel diesmal ein Ding in seinem Maul hielt, das zu groß war, um problemlos transportiert zu werden, lang und in sich gedreht wie eine Meeresschnecke, dessen Spirale sich zu einem Punkt zuspitzte, der dünner als eine Nadel war. Und es glänzte, dieses Ding, es flammte, und tauchte den ganzen Raum, das Piefel, Tanaquil und selbst die Luft in Silberlicht.
    Dann legte das Piefel seine Bürde vorsichtig auf ihrem Bett ab, und der helle Glanz erlosch so weit, daß er dem opalenen Sternenlicht der restlichen Knochen glich. Und

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