Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
vorbeiflogen, auch nicht übermäßig. Manchmal erhaschte man einen Blick auf die Zugmannschaften der Diener, die sich weit unten oder hoch oben über die Treppengeländer lehnten und grinsten. Sie wirkten alle ziemlich geistesgestört.
    »Hat es je einen Unfall mit den Fliegenden Stühlen gegeben?« hatte sie gefragt, als man ihr die Methode das erste Mal erklärt hatte.
    »Ein- oder zweimal«, gab Lizra zu und fügte philosophisch hinzu: »Sie fallen nie tief. Vaters Oberster Berater, Kanzler Gasb, hat sich so einmal das Bein gebrochen. Ratten hatten die Seile angenagt. Der Seilprüfer wurde enthauptet.«
    Sie erreichten das fünfte Stockwerk, das des Bankettsaals, und stiegen zu einem Chor anerkennender Ausrufe von der unteren Bedienungsmannschaft aus. Die Türen zu der Halle waren mit Gold bedeckt. Zwei Diener schwangen sie vor ihnen auf. Sofort sprangen ihnen ein flötespielender Junge und ein Mädchen, das Blütenblätter streute, in den Weg und geleiteten sie durch den Raum. Es war unwahrscheinlich, daß sich auch nur einer der Hunderte von Leuten dort nach ihnen umdrehte. Der Lärm war infernalisch. Dutzende von Musikern spielten auf der Galerie, die den Saal umgab, Flöten und Trommeln, Harfen und Tamburine.
    Niemand hörte zu, machte auch nur den Versuch. Reihen von hochbeinigen und niedrigen Tischen, die sich unter der Last der Speisen und Getränke förmlich bogen, hatten die Gäste wie hungrige Seemöwen angezogen. Diener eilten beflissen mit riesigen Platten voll von Gemüsen, Früchten, Broten, Braten und Kuchen und mit Krügen voller Wein, Wasser, Tee und Brandy umher. Ganz offensichtlich gab es keine festgelegte Speisefolge. Alles wurde gleichzeitig und mit stetigem Nachschub serviert. Auf dem Mosaikboden lagen zertretene Blumen. Geschmeidige Hunde, Katzen und Affen mit silbernen, juwelenbesetzten Halsbändern schlichen umher, während auf einigen der großen goldenen Kandelaber Papageien herumturnten, die irgend etwas verspeisten oder sich die Federspitzen an den Kerzen ansengten. Ein rosafarbener Vogel stürzte sich kopfüber herunter und zog eine Leine aus Kristallen hinter sich her. Das Piefel setzte zum Sprung an, doch Tanaquil hielt es zurück. Der Vogel landete in einer Terrine aus geschliffenem Glas, die so etwas wie kalte Suppe enthielt, und begann sich darin zu waschen und herumzuspritzen.
    Die fürstliche Tafel befand sich am Ende der schier endlosen Banketthalle, inmitten eines Zimmerbaumarrangements aus Weinreben und eingetopften Bäumchen, von deren Ästen kleine, glitzernde Juwelen hingen. Der Tisch selbst bestand aus Gold und besaß eine seltsam gewundene und gedrechselte Form, die an die Mäander von Flußschleifen erinnerte. Ungefähr siebzig Gäste saßen, in der einen oder anderen seiner Kurven, um den Tisch herum. Sie alle trugen unglaubliche Gewänder in den verschiedensten extravaganten und grellen Stilen, überladen mit kostbaren Metallen und Steinen.
    »Da ist Vater«, erklärte Lizra. »Und der da, der mit dem Hut wie eine Eule, ist Gasb.« Den Hut erblickte Tanaquil als erstes. Er war aus Federn gefertigt; die ausgebreiteten Schwingen standen zu beiden Seiten vom Haupt des Mannes ab, und die Maske war so weit ins Gesicht heruntergezogen, daß sie seine Augen und seine Nase unter einem goldenen Schnabel verdeckte. Was immer er in Wirklichkeit sein mochte, das aufwendige Gebilde auf seinem Kopf ließ ihn gleichzeitig lächerlich und grausam räuberisch erscheinen. Von dem Prinzen bekam Tanaquil nur einen überaus flüchtigen Eindruck, bevor Lizra sie zu einer der Tischschleifen gewunken hatte: ein Mann mit pechschwarzem, langem, gelocktem Haar, einem Diadem aus Diamanten und Patchworkgewändern aus Seide, Goldstoffen sowie den Häuten und Fellen zahlreicher Tiere, die ansonsten wohl noch ihre eigenen Leben geführt hätten.
    »Nimm etwas hiervon«, riet ihr Lizra. »Laß das Piefel ruhig auf den Tisch, wenn es will. Sieh nur, Lady Orchids Krallenaffe sitzt in dem Auflauf.«
    Tanaquil begann zu essen. Die Speisen waren schmackhaft, wenn auch teilweise scharf gewürzt. Die Adligen des fürstlichen Hofes streuten zusätzlich noch wahre Wolken von Pfeffer, Salz und Zimt auf ihre Teller, rührten Zucker und andere Essenzen in ihre Pokale ein. Gelegentlich erhaschte Tanaquil weitere Blicke auf Lizras Vater. Er war ein gutaussehender Mann. Er lächelte nie. Und obwohl er den allgemeinen Mätzchen keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, schubste er den sauberen, reizenden Affen von Lady

Weitere Kostenlose Bücher