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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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gegründet. Es wurde von einer gewaltigen Woge an den Strand getragen, und wo es die Erde mit seinem Horn berührte, entstand ein magischer Brunnen, die Quelle aller Süßwasserströme der Stadt. Danach kehrte das Tier von Zeit zu Zeit zurück, um den Fürsten der Stadt seine Aufwartung zu machen. Eines Tages wird es erneut wiederkehren, den Fürsten aufsuchen, ihn berühren und ihn mit gewaltigen Kräften begaben — ihn unsterblich machen, unverwundbar oder Ähnliches. Und dann wird die Stadt eine Blütezeit erleben wie nie zuvor.«
    »Wie lautet die andere Version?« fragte Tanaquil, der die gellenden Schreie der Kunsthandwerker einfielen.
    »Die andere Legende besagt, daß wir das Einhorn beleidigt haben - ich weiß nicht, womit. Und wenn es zurückkommt, wird es deshalb töten und zerstören, und vielleicht wird das Meer sich aus seinem Bett erheben und die Stadt in einer Sintflut verschlingen.« Tanaquil blieb nachdenklich stehen. Sie sah in Gedanken den Urozean vor sich, wie er die Wüste bedeckte, und die Fossilien und Sternenknochen, die sie unter dem hohlen Berg gefunden hatten.
    Das Piefel plumpste in einen Gartenteich. Sie fischten es heraus.
    »Spuck. Böse«, sagte das Piefel. »Naß.«
    »Es ist wirklich brillant, wie du das hinkriegst«, bemerkte Lizra. »Deine Lippen bleiben ganz unbeweglich.«
    Tanaquil war drauf und dran, Lizra die Wahrheit zu beichten, hielt sich jedoch erneut zurück. Wie Lizra hatte auch sie nie eine richtige Freundin oder einen Freund gehabt. Natürlich hatte sie sich bemüht, mit den Mädchen in der Festung Freundschaft zu schließen, doch gnadenlos hatten sie Tanaquil »ihren wahren Platz< zugewiesen: die Tochter der Gebieterin.
    Der Tag war warm, und das Piefel schüttelte sich und plusterte sich neben ihnen auf, als sie sich das mechanische Wasserrad ansehen gingen, das Wasser für die Gärten hochpumpte.
    Während sie die Technik des Wasserrads bestaunten, das die vollen Schöpfräder hochwirbelte und seitwärts in Bewässerungskanäle entleerte, um sie alsbald in der Tiefe der Zisterne wieder zu füllen, rannte ein Palastdiener auf Lizra zu.
    »Hoheit, Euer Vater erwartet Euch in der Bibliothek.«
    »Danke«, entgegnete Lizra. »Ich gehorche.« Der Diener entfernte sich, und Lizra fluchte. »Ich weiß schon, was er will. Es ist wegen dem Fest der Segnung am Ende der Woche - morgen. Es sind endlos viele Rituale«, seufzte sie, als sie den Palast betraten und auf einen Fliegenden Stuhl zusteuerten. Während die Bedienungsmannschaft sie mit fröhlichen Rufen hochhievte, krallte Tanaquil die Hände um ihre Knie und das Piefel seine Klauen in die Kissen; es hockte mit gesträubtem Fell dort und sah aus, als werde ihm jeden Moment übel werden. »Übrigens«, fügte Lizra hinzu, »es tut mir leid, aber die drei letzten Stockwerke werden wir in Vaters Privatstuhl zurücklegen müssen. Er ist schlimmer als dieser hier.«
    »Schlimmer?«
    Sie erreichten den zwölften Stock und passierten einen mit salutierenden goldenen Wachen gesäumten Gang. An seinem Ende befand sich eine geschnitzte Tür, und nachdem sie die durchschritten hatten, standen sie auf einer Treppenbrüstung aus grünlichem Onyx. In einer Treppenflucht taumelte eine Bande von fürchterlich aussehenden Kerlen gefährlich umher. Sie schlugen Rad und schwangen sich vom Geländer herab. Dabei stießen sie, mit dem Kopf nach unten hangend, ein gräßliches, raubtierhaftes Geheul und Geschrei aus. Sie trugen ausnehmend schöne Kleidung, gingen jedoch barfuß. Die Haare standen ihnen zu Berge.
    »Stuhl runter », befahl Lizra streng.
    Auf der Stelle wurde die sinnlose, wahnsinnige Hektik in die Bahnen eines donnernden, gellenden Rennens die Treppe hinauf gelenkt. Von drei Stockwerken über ihnen hörte man Rufe und Heulen und dann einen furiosen Gesang — die Worte klangen völlig unsinnig.
    Ein Fliegender Stuhl von betörender Pracht, der an einem mit Silberfäden umwickelten Seil hing, sauste den Treppenschacht herunter. Er hielt an der Brüstung.
    »Sie binden ihn oben los«, erklärte Lizra. »Wir steigen besser ein. Sie sind nicht in der Lage, lange Zeit stillzustehen.«
    Unbehaglich folgte Tanaquil Lizra in den Stuhl, setzte sich und umklammerte das Piefel mit eisernem Griff.
    Lizra trat mit der Fußspitze eine kleine goldene Vorrichtung in den Boden, und hoch über ihnen schmetterte eine Trompete.
    Der Krach steigerte sich zu einem Orkan von Lärm. Der Käfig ruckte und begann zu steigen.
    Während sie aufwärts

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