Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Orchid, der in seiner Nähe herumtollte, rüde vom Tisch, und man bekam das Schauspiel einer Lady Orchid zu sehen, die ihr wundervolles Gewand in tiefen, um Verzeihung heischenden Kratzfüßen zerknitterte. Lizra schien keine Verbindung zu ihrem Vater zu haben. Sie blickte um sich und redete mit mehreren Leuten an der Tafel. Sie wies auf einen Herrn, der eine Rosensorte erfunden hatte, die sich bei Sonnenuntergang wieder in die Erde zurückzog und so nicht mehr jede Nacht von den Gärtnern gegen den Frost abgedeckt werden mußte, auf eine Dame, die ein Streitwagenrennen gewonnen hatte, und auf einen General in einer goldstrotzenden Rüstung, der angeblich einmal ein Krokodil gegessen hatte. Von Fürst Zorander jedoch erzählte Lizra nichts. » Zwischen ihnen ist nichts «, dachte sich Tanaquil, » so wie zwischen mir und Jaive nichts war.« Dann lachten sie und Lizra wieder ausgelassen über irgendeinen Scherz, und überrascht hörte Tanaquil sich selbst. »An wen erinnert sie mich nur?«
»Habt Ihr schon gehört«, erscholl Lady Orchids laute, selbstbewußte Stimme, während sie die smaragdfarbene Leine des Äffchens um ihr Stuhlbein wand, »daß ein Einhorn in der Stadt gesichtet worden ist?«
Tanaquil fühlte sich, als gösse man ihr heißes und kaltes Wasser zugleich den Rücken hinunter.
»Ein Einhorn? Wieder so ein dummes Gerücht ...«
»Nein, es gab mehrere Berichte in der Löwen- und der Luchsstraße, unabhängig voneinander. Um Mitternacht glitt eine geisterhafte Gestalt mit einem schimmernden silbernen Horn vorbei.«
»Ich habe gehört, daß das Wesen scharlachrot war und feurige Augen hatte«, widersprach ein Adliger zu Lady Orchids Linker.
»Die Fischer berichteten, sie hätten das Geheiligte Tier der Stadt kurz vor Sonnenaufgang im Meer schwimmen gesehen.«
»Es gibt immer irreführende Gerüchte«, schaltete sich Gasb unvermittelt mit einer scharfen, eulengrausamen Stimme ein, die über alle Windungen und Krümmungen der Tafel trug.
Jeder beeilte sich zuzustimmen. »O ja, natürlich, Lord Gasb.«
Irgendwo oben, in dem gewaltigen Gewölbe des Palastes, ertönte eine Glocke von gewaltigem Ausmaß . Sie läutete die Mitternacht ein, und auf der Stelle versank die gesamte Banketthalle in äußerste Stille.
Fürst Zorander erhob sich. Er war imponierend und herrschaftlich in seinem Gewand aus toten Dingen. Er hob einen Pokal, der offensichtlich aus einem einzigen Amethysten geschnitten war. Jeder der Anwesenden stand ebenfalls auf und hielt sein Trinkgefäß hoch. Auch Tanaquil erhob sich, ganz wie Lizra. Die kalte, ruhige Stimme des Fürsten hallte wie die Glocke. »Die Stadt grüßt die Mitternacht und das Geheiligte Tier.« »Mitternacht. Das Tier.«
Sie tranken und setzten sich. Das Piefel, das schweigend und zielstrebig die Fleischstücke auf dem Tisch vernichtet hatte, tapste durch den Bratensaft, kletterte auf Tanaquils Schoß, rollte sich dort zusammen und ruinierte Lizras gelbes Festgewand.
8
Bei Sonnenaufgang führte Lizra Tanaquil durch die ausgedehnten Schloßgärten.
Tanaquil war sich nicht sicher, ob sie so frühes Aufstehen schätzte, wenn man am Abend so spät zu Bett gegangen war. Das Feuer, das für die Nacht in ihrem zinnoberroten Kamin entzündet worden war, glomm noch vor sich hin, als sie dadurch erwachte, daß Lizra, bereits vollständig angezogen in einem wilden weißen Kleid mit gefiederten Ärmeln, mit einem Frühstückstablett neben ihrem Bett stand. »Begrüße den Tag!« sagte Lizra gerade so, wie Jaive ihr Porträt in Tanaquils Zimmer hatte sagen lassen.
Dennoch bot die Sonne, die über so vielen verschiedenen Bäumen und Statuen und über den durchsichtig schimmernden Teichen des Gartens aufging, einen phantastischen Anblick.
Die Gärtner gingen umher und befreiten die Büsche und Blumen von ihren nächtlichen Schutzhüllen. Manche Pflanzen hatte man auch schutzlos der Kälte preisgegeben: ihre Blüten waren vom Frost zerfressen und geschwärzt, doch schon brachen neue Knospen durch, und bis zum Mittag würde hier alles wieder in voller Blütenpracht stehen. Stelzvögel fischten in den Teichen.
»Glaubst du, daß es so etwas wie ein Einhorn geben könnte?« wollte Lizra von Tanaquil wissen.
»Glaubst du es?«
»Ich weiß nicht, woher du kommst«, erwiderte Lizra. »Nein, nein, ich will es auch gar nicht wissen. Doch wahrscheinlich kennst du die Legenden unserer Stadt noch nicht. Es gibt zwei Versionen. Die eine lautet, das Einhorn habe die Stadt
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