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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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fuhren, kamen sie an den Kerlen der Bedienungsmannschaft vorbei, die mit dem anderen Ende des silbernen Seils abwärts keuchten, wobei sie etwas in der Art von »Zieh hey, Seil entzwei ...« kreischten oder sangen; niemals verfehlten ihre Füße eine Stufe, ihre Augen waren rot, Schaum stand ihnen vor dem Mund.
    »O Gott!« rief Tanaquil aus.
    Sie erreichten den oberen Treppenabsatz, und der Käfig hielt an, unbeweglich wie ein Stein.
    »Sie werden ihn jetzt unten festbinden«, erläuterte Lizra. »Dann müssen sie auf den nächsten Fahrgast warten, der nach oben oder nach unten will. Wenn Vater beschäftigt ist, rennen sie manchmal alle zehn Minuten rauf und runter. Sie sind das Gegengewicht, verstehst du? Es war Gasbs Idee. Mein Vater hielt es für ungewöhnlich. Sie verlieren alle den Verstand. Sie können nicht mehr still stehen. Sie müssen in mechanisch betriebenen Hängematten schlafen, die hin und her schwingen.«
    Tanaquil war übel, und das nicht nur von dem Stuhl.
    Zwei goldene Soldaten standen ihnen gegenüber mit gekreuzten Speeren vor einer Tür. »Dies ist die Tür zu den Gemächern des Fürsten.«
    »Ich, die Tochter des Fürsten, werde mit meiner Begleiterin, Prinzessin Tanaquil, eintreten.«
    »Tretet ein!«
    Hinter der Tür befand sich etwas, von dem Tanaquil gehört, das sie aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte: Winter tagsüber.
    »Kümmer dich einfach nicht drum«, riet Lizra.
    Sie gingen zehn Stufen hoch, die aus reinstem Eis zu bestehen schienen, auf denen man jedoch trotzdem nicht ausrutschte. Auf beiden Seiten dehnten sich Ebenen von Schnee in bläuliche Fernen aus, wo weiße Schneeberge in einen königsblauen Himmel stachen. Auf den Schneeebenen pirschten große weiße Katzen mit geflecktem Fell auf ihre Artgenossen.
    Tanaquil verzog das Gesicht. Sie zwang sich dazu, die Glasscheiben zwischen sich und der Schneelandschaf t bewußt wahrzunehmen.
    Sie erreichten den oberen Absatz der Treppe und einen offenen Bogen. Den freien Raum unter dem Bogen durchmaß ein Schneeleopard auf krallenbewehrten Pfoten. Er wandte ihnen seinen boshaft wirkenden Kopf zu und fauchte, und das Fell auf seinem Rücken stellte sich auf.
    Das Piefel preßte sich flach auf den Boden, wackelte mit dem Rumpf und knurrte.
    »Das ist nur mechanisch«, beruhigte Lizra es. »Alles ist nur mechanisch.«
    Das Piefel entspannte sich wieder. Der Schneeleopard besaß keinen Geruch und hatte sich nun auch in eine Wand zurückgezogen.
    Sie verließen die Schneelandschaft und traten durch den Bogen in eine riesige Bibliothek voller goldener Bücher ein. Das Sonnenlicht, das aus einer auf das Dach führenden Tür einfiel, ergoß sich über den glänzend polierten Boden, Schmetterlinge waren hereingeflogen; weiß und silbern und blaßblau flatterten sie durch den Raum und ließen sich auf den Büchern nieder.
    »Mechanisch«, sagte Lizra. Sie warf Tanaquil einen kurzen Blick zu. »Mein Vater liebt die Dinge, die nicht wirklich sind.«
    Entlang des Daches, das mit drachenförmigen Pfannen gedeckt war, segelte ein bemaltes Boot, von einem ballonartigen, steil in den Wind steigenden Segel gezogen. Das Boot erreichte die Tür, und der Segelballon verlor Luft und sackte in sich zusammen. Der Fürst und sein oberster Berater betraten die Bibliothek. Am heutigen Tag hatte Zorander sich mit einer Tunika aus Käferflügeln geschmückt, und Gasb trug einen geierartigen Hut.
    »Wer ist das?« sagte der Fürst. Einen kurzen Augenblick lang dachte Tanaquil, er meine seine eigene Tochter, was sie seltsamerweise überhaupt nicht in Erstaunen versetzte. Doch es war Tanaquil, auf die er seine Frage bezogen hatte.
    »Oh, Prinzessin Tanaquil. Von ... Erm«, antwortete Lizra.
    »Und das da?«
    »Ihr Lieblingspiefel. Es kann sprechen.«
    »Ist es stubenrein?«
    »Ja. Vater.«
    »Bitte halte die Leine kurz«, befahl Zorander Tanaquil.
    Ihre Augen trafen sich. Seine waren kalt, wie seine Schneewelt, wie seine Automaten.
    Er schien ihre Haare und ihr geliehenes Gewand nicht zu mögen. Sie verbeugte sich, und er sah fort. Sie war froh darüber.
    »Das Fest der Segnung«, sagte der Fürst zu Lizra.
    »Ja. Vater?«
    »Dieses Jahr sollst du mir Ehre machen. Die Leute erwarten es. Dein Gewand wird
    gerade vorbereitet. Heute nacht wirst du es erhalten. Es besteht aus sieben Schichten Goldspitze.«
    Lizra zuckte zusammen. Der Fürst bemerkte es nicht. Er schaute sich in der Bibliothek um und erbückte ein Gestell, auf dem ein männliches Gewand drapiert

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