Das Mädchen und der Zauberer
langes Messer, das vor einer Voodoo-Puppe im Sand stak, aus dem Boden, sprang zu dem Zicklein, beugte sich mit wilden Zuckungen über das Tier und schnitt ihm mit einem einzigen Hieb die Kehle durch. Dann nahm er das Zicklein wie ein Kind auf beide Arme, trug es im Kreis herum und bespritzte die Voodoo-Spieße mit dem hellen, sprudelnden Blut. Noch einmal schüttelte sich sein Körper in wilden Krämpfen, er warf das tote Tier weg in den Glashaufen, sank auf den Boden, wälzte sich und breitete die Arme aus. Die Trommel unter Alices Händen dröhnte, dann gab es einen kreischenden Laut: Das Ziegenfell war zerborsten. Mamissi Wata, nun selbst in wilden Zuckungen, fiel mit dem Gesicht nach vorn in den Sand.
Die plötzliche Stille war lähmend. Und in diese Stille hinein hörte man Jules' ferne, entrückte, völlig fremde Stimme, die Stimme des Geistes Leglesou, die aus dem All zu kommen schien:
»Es ist ein weißer Mann … ein älterer weißer Mann … Land sehe ich … ein weites Land … Felder … ein Ort mit einer Kirche … das Meer ist nicht weit … aber er lebt nicht am Meer … weit ist das Land … im Osten … zwei Städte auf einer Linie … voneinander entfernt … dazwischen das Land … fruchtbar … Zuckerrohr, Ananas … viele Menschen um ihn herum … gutes Land …«
Totagans Zuckungen verebbten. Mamissi Wata lag auf dem Gesicht und schlug mit der Stirn in den Sand. Alice Anamera kniete neben der zerplatzten Trommel, die Augen geschlossen, das Baumwollkleid naß vom Schweiß, ein Bild der Versteinerung.
Mit einem Seufzer kam Jules in diese Welt zurück. Er setzte sich auf, blickte sich im Kreis um, betrachtete die getöteten Tiere, die dargebrachten Opfer, das Blut, das überall war und die betende Mamissi Wata, die wie ein bunter Fleischberg im Sand lag. Langsam stand Jules auf, ging aus dem magischen Kreis hinaus, schritt zum Meer, ging in die Wellen hinein und wusch das Blut von seinem Körper. Als er zurückkam, saß Mamissi Wata im Sand und starrte ihn an, als sei er noch der unverwundbare Gott. Alice kniete neben ihr und hatte ihre Schulter umklammert.
»Wir finden ihn!« sagte Jules mit fester Stimme. »Im Osten, im fruchtbaren Land, wo Zuckerrohr und Ananas wachsen. Zwei Städte voneinander entfernt, aber auf einer geraden Linie, und nahe ist das Meer. Wir finden ihn! Es gibt nur wenige Weiße in dieser Gegend. Bleibt es dabei, Danielle, daß ich ihn haben kann?«
»Du hast ihn, Jules!« rief Mamissi Wata laut. »Nimm ihn dir! Opfere ihn für dich! Wen willst du töten?«
»Nicht ich! Voodoo soll es tun!« Jules Totagan faßte Mamissi Wata unter. Zusammen mit Alice stemmten sie sie von der Erde hoch. Dann lächelte er und legte den Arm um Danielles fette Schulter. »Es ist eine weiße Frau. Diesem Zauber wird sie nicht widerstehen!«
9
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Sie lagen nebeneinander in dem prunkvollen Doppelbett mit dem Baldachin aus kreolischer Spitze darüber – ein Schlafzimmer, einer Königin würdig – und tranken, meist stumm und in kleinen Schlucken, eine Flasche Champagner.
Das Abendessen war kurz gewesen, trotz der Kunst der schwarzen Köchin, aus einer einfachen Schweinelende ein kulinarisches Kunstwerk zu machen. René würgte ein paar Bissen herunter, schob dann den Teller zurück und sagte gepreßt: »Entschuldige, Liebling, aber mir ist der Hals wie zugeschnürt.« Dann trank er zwei große Gläser Wein wie Wasser, verließ die Terrasse und ging ins Haus. Als er nach zwanzig Minuten nicht wiedergekommen war, winkte Petra dem Diener, abzuräumen und suchte René erst im Salon, dann in der Bibliothek und im Arbeitszimmer. Sie fand ihn im Schlafzimmer. Er lag angezogen auf dem Bett und rauchte einen Zigarillo.
Als sie eintrat, hob er kurz den Kopf und ließ ihn dann in das Kissen zurückfallen. Sie blieb an der Tür stehen und lehnte sich dagegen.
»Was hast du?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Durchaus nicht.«
»Hast du Magenschmerzen?«
»Warum?«
»Du hast das Essen abgebrochen.«
Er hob wieder den Kopf, richtete sich dann auf und starrte sie eine Weile stumm an. »Ich habe dich immer für ein ungewöhnliches Mädchen gehalten«, sagte er dann, »aber seit heute weiß ich, daß du eine der mutigsten Frauen bist, die ich kenne.«
»Und das erschüttert dich so?« Sie stieß sich von der Tür ab und kam näher, setzte sich neben René aufs Bett und nahm seine Hand. »Es wäre alles viel einfacher gewesen, wenn du mir
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