Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
reagierte mit einem nachsichtigen Lächeln, als sie bemerkte, dass ich mich mehr für die Verpackung als für den Inhalt interessierte. Sie erzählte mir, dass man in den Supermärkten von São Paulo fast alles bekomme, sogar Spezialitäten aus Europa. Sorgfältig breitete sie ein paar Papierservietten auf dem Bett aus, dann biss sie in das erste Röllchen. Etwas zögerlich griff auch ich zu. Der Spargel war saftig, doch etwas faserig, nur die weichen Spitzen zergingen fast auf der Zunge. Den Schinken mochte ich auf Anhieb.
Schweigend kauten wir, bis die Styroporschale leer war.
So also schmeckte die Heimat.
Kaltes, fremdes Land
Die ersten Stunden, Tage und Wochen nach unserer Ankunft in Deutschland sind in meiner Erinnerung wie von einem grauen Schleier überzogen. Wie bei einem alten Videorekorder, bei dem man die Aufnahmen so lange vor- und zurückspult, bis sich die Bilder überlagern zu einem diffusen Eindruckswirrwarr verschmelzen und sich einzelne Sequenzen nicht mehr ordentlich voneinander abgrenzen lassen.
Das erste Bild, an das ich mich nach unserer Rückkehr bewusst erinnere, war das Dunkel einer Unterführung, die wir durchqueren mussten. Über uns erstreckte sich eine gewaltige Brückenkonstruktion aus Stahl. Auf der Oberfläche der Brückenträger prangten kreisrunde Noppen, die das Bauwerk so fest zusammennieteten, dass es mühelos dem Gewicht der darüber hinwegdonnernden Züge standhielt. An einigen Stellen schimmerte ein grell orangefarbener Anstrich, der das Ungetüm vor Rost schützte. Leuchtende Flicken, die wie Pflaster auf den Wunden der Zeit klebten. Am Ende der Unterführung ging es wieder auf die Straße hinauf, wo unzählige Autos an uns vorbeirauschten. Eine Kolonne dröhnender, rasender, qualmender Blechmonster. Die Fahrer schienen nicht die geringste Notiz von der Frau zu nehmen, die sich mit einem großen Koffer in der einen und einem kleinen Kind an der anderen Hand über den Bürgersteig schob.
Das Tempo der Stadt erschien mir um mindestens drei Takte schneller als alles, was ich bislang gewohnt war. Die Hausfassaden waren durch den Ruß der Abgase geschwärzt, die Menschen, die an uns vorbeihasteten, schauten uns nicht einmal richtig in die Augen. Dafür blickten sie umso häufiger auf ihre Armbanduhren. Selbst wenn sie sich unterhielten, schien es, als warteten sie kaum eine Antwort ab. Bestimmte Begriffe verwendeten sie in regelmäßigen Abständen, ohne dass ich ihre Bedeutung erfassen konnte: Termin, Ärger, Vorschrift, pünktlich und wichtig. Wichtig, wichtig. Die Art, wie die Menschen in Deutschland sprachen, kam mir im Gegensatz zum melodiösen Singsang der Aparai besonders hart und ein wenig monoton vor. Vor allem laut, beinah bellend. Es mag wie ein Klischee klingen, das oft bemüht wird, wenn die deutsche Sprache beschrieben wird. Aber ich kann verstehen, dass Menschen, die zum ersten Mal nach Deutschland kommen, ähnlich empfinden. Meine Eltern hatten in Mashipurimo untereinander zwar Deutsch gesprochen, aber mit einer weicheren Sprachmelodie – pfälzisch und rheinländisch eingefärbt. Das harte Hochdeutsch klang in meinen Ohren deshalb wie eine gänzlich fremde Sprache.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir ein ruhigeres Altbauviertel. Die Häuser waren herausgeputzt, mit gelbem oder rotem Klinker verkleidet, die Simse und Fensterrahmen mit cremefarbenem oder weißem Stuck abgesetzt, da und dort ein kleiner Balkon. Einige Fassaden waren mit Putten oder anderen Figuren geschmückt, manche davon trugen Weinreben im Haar. Im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick in ihre ausdruckslosen Augen. Starr und in Gips gegossen für die Ewigkeit.
Alte Bäume warfen mächtige Schatten auf die Straße. An die Gehsteige grenzten schmiedeeiserne Schnörkelzäune. Hinter einigen wuchsen Rhododendren oder Buchsbaumhecken, andere versperrten nur mühsam den Blick auf wucherndes Unkraut. Un-Kraut , noch so ein Wort, unter dem ich mir wenig vorstellen konnte. Im Urwald hatte jedes Kraut eine Bedeutung. In Deutschland gab es offenbar Pflanzen, die keine Daseinsberechtigung hatten.
Vor einem der Eingänge blieben wir endlich stehen. Hier also wohnte meine deutsche Großmama. Meine Mutter ließ mich einen polierten Messingknopf drücken, ein schriller Klingelton folgte. Riiiiiiiinnnggg! Noch einmal drückte ich den Knopf, so fest ich konnte. Riiiiiiiinnnggg! Und noch mal. Dreimal Klingeln hieß nämlich Familie. Das Klappern eiliger Schritte, dann hörte ich, wie
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