Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
umständlich eine Sicherheitskette im Innern des Hausflurs beiseitegeschoben wurde. Die Frau, die im nächsten Augenblick im Türrahmen erschien, war mir auf Anhieb sympathisch. Ihre dunklen Locken waren bereits von silbernen Fäden durchzogen, ihre Augen erinnerten mich an die meines Vaters. Sie lachte, während ihr gleichzeitig die Tränen übers Gesicht liefen. Als sie mich in ihre Arme schloss, stieg mir der rosige Duft ihres Parfüms, vermischt mit pudrigem Deodorant, in die Nase. Fortan für mich der Großmuttergeruch. An heißen Sommertagen kam noch eine Spur Kölnisch Wasser hinzu. »N ein, wie schön, dass ihr endlich hier seid! Wiiiiiee schöööön!«, quietschte die Großmutter vergnügt.
Sie war herzlich, temperamentvoll, ein wenig unkonventionell vielleicht, auf jeden Fall ziemlich direkt. Sie nahm auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, Ungerechtigkeiten anzuprangern, oder wenn ihr etwas nicht passte. Obwohl sie mit ihrer Perlenkette und dem zu dezenten Wellen gelegten Haar wie eine richtige Dame aussah, hätte Antonia sie auf Anhieb gemocht. Die beiden waren nämlich aus ähnlichem Holz geschnitzt.
Meine Großmutter erzählte mir, wie gern sie uns im Urwald besucht hätte. Einmal sei sie schon auf gepackten Koffern gesessen; die Schneiderin, Fräulein Capp, hatte ihr bereits ein luftiges Tropenkostüm genäht, als ihr der Hausarzt die gefährliche Reise wegen ihres angeblich zu schwachen Herzens untersagte. Eine Frau in ihrem fortgeschrittenen Alter in den Tropen? Nein, das konnte er nicht gutheißen. Seitdem hatte sie alles gelesen und gesammelt, was ihr über den Amazonas in die Finger gefallen war, weshalb sie eine annähernd realistische Vorstellung von den Menschen, der Pflanzen- und Tierwelt dort hatte. Und von den Bräuchen und Traditionen der Völker, die auch ihre Enkelin geprägt hatten.
Ihr Haus, nur eine knappe Dreiviertelstunde von unserer alten Wohnung entfernt, die während unserer Abwesenheit leer gestanden hatte, wurde in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Rückzugsort für mich, wenn es mir in der neuen Welt wieder einmal zu herzenskalt wurde. Bei meiner Großmutter durfte ich sogar im tiefsten Winter barfuß durchs Haus laufen, und auch unsere Mitbringsel aus dem Regenwald fanden hier einen angemessenen Platz. Neben wuchtigen Schränken und Vitrinen mit Nippes hingen alsbald indianische Tanzmäntel von der Stuckdecke, im Wintergarten und auf dem Dachboden kamen die Pfeile und Paddel der Aparai neben allerlei anderen Gerätschaften und Kisten aus dem Urwald unter. Im kleinen Salon, wo wir Tee mit Milch und Kandiszucker tranken, stand mein Aparai-Sitzbänkchen wie selbstverständlich neben einer zierlichen Jugendstil-Garnitur. Auch wenn sich Großmutter von Zeit zu Zeit über die Unmengen der Sammlungsstücke und Kisten meines Vaters beklagte, weil sie wieder einmal den Hausflur versperrten, fand sich am Ende immer noch irgendwo ein Platz in ihrem geräumigen Gründerzeit-Haus. Der Kontrast zwischen den schweren Brokatvorhängen, antikem Mobiliar und Plüsch und den nüchternen Kisten aus Aluminium und tropenfester Pappe, in denen der Feder- und Perlenschmuck der Aparai nebst Ausgrabungsstücken, Tonwaren und Schnitzereien verpackt war, hätte kaum größer sein können. Und doch passte beides zusammen, wie zwei Seiten einer Medaille.
Bei uns zu Hause erinnerte hingegen nicht viel an die vergangenen Jahre in Mashipurimo. Einzig über der Eckbank im Esszimmer hingen ein paar antike Kupferstiche von Crevaux, welche die Amazonasindianer Ende des 19 . Jahrhunderts bei ihren Tanzfesten zeigten. Sie waren nicht besonders realistisch, sahen dafür aber schön aus. In unserem neuen Leben schien nicht mehr viel Platz für Gegenstände aus dem Urwald. Deshalb hatte mein Vater sie in seinem Elternhaus untergebracht, wohin er sich mit der Zeit auch immer häufiger und länger zurückzog, bis meine Eltern eines Tages getrennte Wege gingen.
Ich versuchte mich, so gut es ging, in der neuen Welt einzurichten. Bemüht, die vielen Eindrücke aufzunehmen und bloß alles richtig zu machen. In den ersten Monaten betonten meine Eltern Fremden gegenüber immer wieder, dass wir erst vor Kurzem aus dem Urwald zurückgekommen seien und uns wieder in Deutschland einleben müssten. Wenn meine Mutter diesen Umstand irgendwo beiläufig erwähnte, damit man mich nicht schief ansah, wenn ich etwas anders machte oder mich seltsam ausdrückte, gingen die Menschen in die Hocke und schauten mich an,
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