Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
erinnern. Das allerletzte Stück überstand viele Jahre versteckt in der Schublade meines Schreibtischs. Manchmal, wenn mich das Heimweh nach Mashipurimo überwältigte, öffnete ich die Dose, um an den vertrockneten Brotreste zu schnuppern. Der Duft von frischem Wöi ließ sich auch nach Jahren noch aus meiner Erinnerung abrufen.
Notration für meinen Vater – Mikulu bei der Erdnussernte
Meine Mutter und mich führte unsere Reise zunächst in die brasilianische Hauptstadt São Paulo. Unser ganzer Besitz passte in einen großen Koffer. Meine Mutter versprach, dass ich in Deutschland neu eingekleidet würde, vor allem mit warmen Sachen und festem Schuhwerk. In meinen Ohren klang das eher wie eine Drohung. Einstweilen trug ich ein altes und inzwischen viel zu kurzes Sommerkleid mit Karomuster und ein Paar Sandalen, über deren Sohlen meine Zehen ein wenig hinausragten. Aber das störte mich nicht weiter, im Gegenteil. So konnte ich meine Füße besser sehen und mit ihnen sprechen, wenn ich mich einsam fühlte. Manche Kinder haben einen imaginären Freund, ich hatte zehn Zehen, mit denen ich ganze Theaterstücke inszenierte.
Das Hotelzimmer, das wir für die nächsten Tage bezogen, wirkte ungewohnt kalt. Blank poliert, gefliest, nicht einmal eine Topfpflanze brachte etwas Leben in den sterilen Raum. Das Bett mit den glatt gebügelten Laken war unbequem, die Decke lastete schwer auf meinen Schultern. Als ich mitten in der Nacht wach wurde und aus dem Bett krabbelte, um in meine vertraute Hängematte zu klettern, stieß ich mit dem Kopf gegen den Kleiderschrank. Benommen rieb ich mir die Augen: Da war keine Hängematte, nur eine glatt verputzte Wand, an der ich mich vorsichtig entlangtastete. Ich vernahm das leise Surren des Ventilators, der die schwüle Luft umherwirbelte. Der bittere Geruch von Mottenkugeln und Insektenspray stach mir in die Nase. Meine Mutter atmete gleichmäßig. Der Bettvorleger war weich und kitzelte unter meinen Fußsohlen. Durch das Fenster funkelten die Lichter des unüberschaubaren Häusermeers, die künstlichen Sterne der Metropole. Als sich die Sonne endlich über den Dächern erhob, hatte ich mir bereits die halbe Nacht über meine Nase am Hotelfenster platt gedrückt. Wo waren die Bäume? Die Tiere? Der Fluss? Nichts dergleichen hatte ich entdecken können, und auch sämtliche Geräusche waren durch die gläserne Barriere ausgesperrt geblieben.
Am Vormittag gingen wir in eine Art Supermarkt für Textilien, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Paar lange Hosen schlüpfte. Meine Mutter erstand außerdem Unterwäsche und Kniestrümpfe für mich. Und ein Paar etwas zu großer Schuhe, in die meine Füße erst noch hineinwachsen mussten.
São Paulo war überwältigend. Allein beim Anblick der himmelhohen Häuser wurde mir ganz schwindlig. Es schien, als könnten diese Gebilde mit ihren unzähligen Stockwerken die Wolken berühren. »D eshalb heißen sie auch Wolkenkratzer«, erklärte mir meine Mutter. In der Stadt wurde überall gebaut. Presslufthämmer zerschlugen alte Pflastersteine in tausend Stücke, dampfender Teer, der schlimmer stank als alles, was ich je zuvor gerochen hatte, wurde wie flüssiges Wachs über die frisch planierten Flächen gegossen. Überall ragten Kräne zwischen dem Häusermeer empor, stählerne Ungeheuer, die sich wie von Geisterhand in Zeitlupe bewegten. Unheimlich war das und beeindruckend zugleich. Die Straßen schienen die Erde unter sich zu begraben. Kein Baum, kein Strauch, nicht einmal ein Grashalm, der sich in dieser Landschaft aus Stahl und Stein noch ans Licht gewagt hätte. Unentwegt fegte ein starker Wind Staub über die Erde, kleine Abfallschnipsel tanzten über den Boden. Plastiktüten und Zeitungsfetzen wirbelten wie welkes Laub durch die Luft.
In dieser befremdlichen Kulisse jagten meine Mutter und ich im Eiltempo umher, ich konnte kaum Schritt mit ihr halten. Die Gehsteige entlang, in Unterführungen hinein und über riesige Straßenkreuzungen hinweg, in deren Mitte auf einer kleinen Betoninsel ein Mann stand, der mit Armbewegungen versuchte, den Verkehr vor dem Kollaps zu retten. Ob er eine Art Häuptling war? Anstelle einer Federkrone trug er eine Uniformmütze, statt Perlensträngen einen Gurt über den Schultern. Seine Hände, die in übergroßen weißen Handschuhen steckten, wirkten wie Paddelblätter. Die Abgase der Autos stanken penetrant, sie machten mir das Atmen schwer und brachten mich pausenlos zum Husten. Meine
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