Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
meinen Leibspeisen. Ein ausgewachsener Affe konnte 10 bis 15 Kilo wiegen und damit mehrere Familien satt machen. Allein beim Gedanken daran lief mir schon das Wasser im Mund zusammen.
Als Antonia zum Affenschmaus rief, hockte der wohlgenährte Inaina bereits auf seinem Sitzbänkchen. Im Gegensatz zu uns, die bequem auf dem Boden saßen, die Beine ausgestreckt, die Füße übereinandergeschlagen, bevorzugte er eine vornehmere Haltung. Araiba war das unumstrittene Oberhaupt der Familie und Chef des Oberdorfs, doch sein Enkel war dabei, in seine Rolle als zukünftiger Ernährer der Familie hineinzuwachsen. Er war geschickt und konnte selbst mit Giftpfeilen umgehen. Wenn Antonia ihn wegen seiner Fähigkeiten lobte, blickte Inaina verlegen zu Boden. Er war zwar ein wenig eitel, worüber wir uns bei jeder Gelegenheit lustig machten, indem wir ihn heimlich »d en Schönling« nannten, aber überheblich war er nicht. »S o einen fetten Affen habe ich selten gesehen, davon können wir mindestens zwei Tage essen«, freute sich Antonia und fuhr ihrem Enkel anerkennend übers Haar. Araiba war eher auf die truthahnartigen Hokko-Hühner oder Tukane erpicht, da er ihre Federn und Schnäbel sammelte. Daraus stellte er seinen Federschmuck her. Araiba war ein begnadeter Künstler, wenn es um traditionelles Handwerk ging. Er kannte das Geheimnis der besten Bindungen, er kreierte wunderschöne Federkronen, und er war ein Meister der Flechtkunst und Herstellung von Tanzmänteln. Araiba wusste, wo man im Urwald das beste Äno (Wildbienenwachs) fand und wie man den perfekten Klebstoff aus verschiedenen Baumharzen kochte. Und er wusste, wie man ganze Kleintiere präparierte, ohne dass sie bei der feuchten Witterung verfaulten. All das hatte er von seinem Großvater gelernt, und der hatte es wiederum von seinem Großvater gelernt und so weiter und so fort.
Auf einmal zog Inaina behutsam ein kleines Vögelchen unter seinem Baumwollgürtel hervor: einen blau-türkis schimmernden Kolibri. Leblos, wie er nun auf Inainas heller Handfläche lag, tat er mir leid. Wie gerne beobachtete ich gemeinsam mit Koi und Sylvia die winzigen Vögel bei ihrer Nektarsuche. Ihre Flügel schlagen derart schnell, dass sie minutenlang in der Luft zu stehen scheinen, während sie mit ihren strohhalmartigen Schnäbeln die süßen Tropfen aus farbenfrohen Blüten saugen. Die Aparai vermochten hunderte Arten von Kolibris zu benennen. Die kleinsten von ihnen messen nicht einmal sechs Zentimeter.
»D er hat aber ein schönes Gefieder!« Araiba strahlte. »D araus werde ich dir einen Anhänger für dein Federkränzchen machen, mein Junge.« Beim nächsten Tanzfest baumelte das ausgestopfte Vögelchen bereits auf Inainas Rücken. In lebendigem Zustand wäre mir der kleine Kolibri allerdings lieber gewesen.
Über seine Erlebnisse bei der Jagd mussten wir Inaina jedes Wort aus der Nase ziehen. Ganz im Gegensatz zu Kulapalewa übrigens, der nur ein paar Hütten entfernt im Unterdorf wohnte und nie darum verlegen war, seine Taten in den schönsten Farben zu schildern. Besonders am abendlichen Lagerfeuer liefen er und sein Sohn Chico zu Höchstform auf. Kulapalewa hatte offensichtlich das Talent seiner verstorbenen Mutter Oloitö-Ämwani geerbt. Sie war eine der berühmtesten Geschichtenerzählerinnen der Aparai gewesen und hatte noch Sagen aus einer Zeit gekannt, als die Aparai nönölü, die Welt der Aparai, ihren Anfang nahm. Flussauf, flussab war ihr Name bekannt, selbst weit über die Grenzen Brasiliens hinaus. Zu ihren Lebzeiten galt Oloitö-Ämwani als »H üterin des Wissens«, und damit als besonders angesehene Frau. Nach ihrem Tod war sie, die Würdige, die den Schatz der Legenden für die Aparai zusammenhielt, selbst zur Legende geworden.
Kulapalewa und seine Angehörigen hielten mit ihrer Herkunft nicht hinter dem Berg, und ich muss zugeben, sie waren wirklich so gut darin, Geschichten zu erzählen, dass ein ganzes Dorf gebannt an ihren Lippen hing. Während der charismatische Kulapalewa selbstbewusst auftrat, sprach sein Sohn Chico nur mit leiser Stimme und gesenktem Haupt. Chico war von Natur aus eher schüchtern, und es kostete ihn Überwindung, vor einer größeren Gruppe zu sprechen. Diese Schüchternheit behielt er zeitlebens bei, auch, als er nach dem Tod seines Vaters dessen Nachfolge als Häuptling von Mashipurimo antrat.
»D en Alimi hier«, wollte Großvater Araiba beim Essen wissen und zeigte auf den Kochkessel, »h ast du den mit einem Gewehr oder
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