Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Augen hatte seine Zeichnung eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Krokodil. Koi und ich spitzten die Ohren. Jenseits des Himmels- und des Erdkreises gab es noch eine weitere Welt, die für die Lebenden jedoch tabu war: Schipatei. Die Schattenwelt oder das Reich der Toten. Jener Ort, an dem die Verstorbenen als Schatten weiterlebten. In einigen Geschichten wurde Schipatei als die Stadt der Toten bezeichnet, in anderen Erzählungen befand sich Schipatei auf einer Insel. Der Insel der Ahnen. In jedem Fall aber lag dieses Schattenreich jenseits des Kreises der Himmelsträger. Ich versuchte, mir bildlich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn die Menschen, die nicht mehr unter uns weilten, in die Schattenwelt hinüberglitten. Den Gedanken, dass wir nach unserem Tod als Schatten weiterlebten, fand ich als Kind beruhigend. Bei den Aparai hatte keiner Probleme mit dem Altern und dem Tod. Für sie waren die Geburt und der Abschied nur Stationen eines ewigen Kreislaufs. Anakalena malte uns in den schönsten Farben aus, wie das Schattenleben für die Verstorbenen in Schipatei weiterging. Dort wurde niemand älter, auch gab es weder Krankheiten noch Hunger. Und die Schattenmenschen, deren Hütten von immergrünen Palmblattdächern bedeckt waren, hatten genug Zeit, um auf ihren Flöten zu spielen und sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Was für ein friedliches Dasein. Aber bevor wir in Träumereien versinken konnten, nahm die Geschichte eine dramatische Wendung.
Die Stimme unseres Erzählers wurde auf einmal schneidend: »Neben unserer Welt und der schönen Schattenwelt im Jenseits gab es nämlich noch einen weiteren Ort, an den jene Menschen gelangten, die zu Lebzeiten schlecht waren. Böse und durchtriebene Menschen, die anderen übel mitgespielt hatten, kamen an den Ort des schlechten Manioks, ob sie wollten oder nicht. Niemand konnte sich dagegen wehren. S änoto nümölö«, betonte Anakalena mit Nachdruck, sehr böse und hinterhältige Menschen. Mahnend erhob er seinen Zeigefinger und schüttelte den Kopf. Es lohnte sich also nicht, schlecht zu sein, denn schlechten Maniok mochte niemand. Das leuchtete auch uns Kindern ein.
Anakalena deutete nun auf die Erde unter unseren Füßen. Er fragte, ob einer von uns wisse, was sich vor langer Zeit dort unter der Erdkruste befunden habe. Alle schüttelten den Kopf, auch die größeren Kinder, die diese Geschichte ganz sicher schon auswendig kannten. »W ürmer?«, fragte Mikulu verhalten. Alle lachten. Anakalena schüttelte den Kopf, nein, nein, er meinte ganz unten, wo keine Würmer, keine Käfer und keine Wurzeln mehr hinkamen. Ratloses Schweigen. Und dann erzählte uns Anakalena von den Wassermenschen, die dort vor langer Zeit gelebt hatten. Die Wassermenschen ähnelten den Aparai, nur dass sie eine viel hellere Haut hatten und ganz lange Haare. Manche Aparai und Wajana nahmen sogar auf deren Herkunft Bezug, indem sie sich als Nachfahren der »a us dem Wasser Gekommenen« bezeichneten.
Die verschiedenen Scheiben, das Wasserreich, die Erdscheibe, die Welt und das Himmelszelt waren durch einen gewaltigen Urbaum miteinander verbunden, den Kumaka- Baum der Aparai der alten Zeit. Er wuchs am Rande des Erdkreises empor, und seine Äste reichten bis in den Himmel. Dazwischen herrschten die Urkräfte des Feuers und des Windes. Beide konnten sich vollkommen frei zwischen den verschiedenen Ebenen bewegen und großes Unheil anrichten, wenn die Menschen einmal nicht Acht gaben. Die Erdscheibe, auf der die Menschen lebten, war von einem großen, nicht enden wollenden Wasser umgeben. Ich kam ins Grübeln. War das vielleicht der Ozean, von dem mir meine Eltern erzählt hatten? Über den wir von Europa nach Südamerika gefahren waren?
Bevor ich Gelegenheit hatte nachzufragen, fuhr unser Geschichtenerzähler fort. Über all dem waltete eine allmächtige Schöpferkraft. Sie war Teil des Universums und wurde nur indirekt erwähnt. Der »L iebe Gott« wurde also ursprünglich weder personifiziert noch namentlich benannt, wie etwa bei den Christen. Und dennoch gab es im uralten Verständnis der Aparai eine Macht, die über alle Geister und Gewalten herrschte, innerhalb wie außerhalb des Kreises. Die ein wachsames Auge auf alles hatte, was sie in grauer Vorzeit geschaffen hatte, wie uns Anakalena wortreich versicherte.
Vielleicht sind es solche Parallelen zwischen den indianischen Ursprungsmythologien und dem Christentum, die es Missionaren jeglicher Couleur so einfach machten, die
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