Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Fledermäuse zu ihrem Nachtflug aufmachten und mit kaum merklichem Flattern aus unserer Hütte entschwanden. Fette Taranteln krabbelten lautlos über unseren Köpfen an den Dachbalken entlang. Dort lauerten sie auf kleinere Insekten, doch das störte nicht weiter, wenn man sich erst einmal an ihren Anblick gewöhnt hatte. Einige davon waren tellergroß und schwarz behaart. Ein Meer aus Kröten bedeckte die Erde unter unserem Pfahlbau, was ebenfalls nicht weiter schlimm war, wenn man nachts nicht in die Büsche musste. In so einem Fall war es ratsam, ordentlich mit den Füßen auf die Erde zu stampfen, damit die Kröten forthüpften. Half das nicht, fegte man sie wie kleine Fußbälle beiseite. Wenn man Pech hatte, ahnten die Kröten, was ihnen bevorstand. Wenn sich die warzigen kleinen Ungeheuer bedroht fühlten, bespritzten sie ihr Gegenüber mit einem giftigen Sekret. Und das juckte ganz fürchterlich und war eine durch und durch ekelige Angelegenheit. Um das zu vermeiden, standen in unserer Hütte Nachttöpfe unter den Hängematten. In den Augen der Aparai eine völlig unnötige Erfindung. Keiner von ihnen fand es tragisch, mitten in der Nacht vor die Hütte zu müssen, wenn die Blase drückte. Und wenn man dabei zufällig auf eine Kröte oder eine Schlange trat, dann war das eben so. Toipä.
Vor dem ersten Hahnenschrei war Großvater Araiba schon wieder mit dem Schüren des Kochfeuers beschäftigt. Er trug die Glut des Nachtfeuers zu Antonias Kochhütte hinüber und streute ein Häufchen aus leicht entzündbarem Material darauf – Rindenstücke, Baumwollflocken und Holzspäne, die in den vergangenen Tagen bei der Hausarbeit angefallen waren. Neugierig hockte ich mich neben ihn, um zu lernen, wie man einen Holzstapel zum Brennen brachte. Es war noch frisch draußen, und der Frühnebel umgab uns wie ein kalter Mantel. Heute waren wir die Ersten, die so früh auf den Beinen waren.
Anstelle eines Guten-Morgen-Grußes stupste ich Araiba mit der Schulter an. Geduldig zeigte er mir, wie man mit etwas Geschick die Holzscheite um die Glut herum zu einer perfekten Pyramide stapelte. Er machte den Anfang, ich vollendete den Rest. Dickere Holzscheite bildeten das Gerüst, während der Bauch der Konstruktion nach und nach mit Rindenstückchen aufgefüllt wurde, die, von der Glut angesteckt, schon bald zu qualmen begannen. Behutsam wedelte Araiba nun mit seinem Feuerfächer von unten etwas Luft in den Pyramidenbauch. Nahrung für die Geister der Flammen, wie er mir mit einem verschwörerischen Lächeln verriet. Araiba konnte sogar mit einer Art Holzquirl Funken erzeugen, während meine Eltern dafür Streichhölzer benötigten. Als ich ihn bat, mir zu zeigen, wie man das machte, drehte er mit Hilfe eines Fadens ein feines Stöckchen zwischen seinen beiden Handflächen so lange hin und her, bis sich an dessen Spitze schließlich feiner Qualm nach oben kräuselte. Wie von Geisterhand flackerte kurz darauf ein winziges Flämmchen auf. Zufrieden betrachtete Araiba sein Werk.
Zwanzig Jahre später, kurz nach meiner Rückkehr an den Paru, begab ich mich nach einer schlaflosen Nacht in aller Frühe auf den Weg zum Fluss. Alle schliefen, einzig Araiba war schon auf den Beinen. Mit einer vertrauten Geste winkte er mich zu sich, während er flink ein paar Holzscheite aufschichtete. Voller Stolz zog er etwas aus seinem Gürtel: ein neongrünes Plastikfeuerzeug. So haben sich die Zeiten inzwischen geändert.
»E rzählst du mir eine Geschichte?«, bettelte ich, als wir es uns beide am Frühstücksfeuer bequem gemacht hatten. Antonia hatte einen Kessel mit frischem Wasser auf das Kochgerüst gestellt und war noch einmal zum Fluss gegangen, um in Ruhe zu baden, bevor alle anderen aufwachten. Zuvor hatte sie mir einen Schmatzer auf die Stirn gedrückt und mich aufmunternd in die Rippen geknufft. Araiba hatte beiläufig erwähnt, dass ich heute zum ersten Mal Feuer gemacht hatte. »G anz allein hat sie das geschafft!«, was natürlich ein wenig geflunkert war. Antonia lächelte mir anerkennend zu und machte sich dann auf zum Baden. Sylvia lag noch in ihrer Hängematte, Araiba und ich hatten wieder unsere Ruhe. Großvater Araiba begann, ein paar am Vortag geerntete Erdnüsse zu schälen, die anschließend fürs Frühstück geröstet wurden. Und währenddessen erzählte er mir die Geschichte von den Erdnusszähnen: » Vor langer, langer Zeit setzte der große Schöpfer den Jaguaren und den Menschen schöne starke Zähne aus Bergkristall in
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