Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Indianer am Amazonas zu bekehren. Beide glauben an eine Schöpferkraft, eine Art Paradies, Himmel und Hölle. Den Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht, Versöhnung und Vergebung. Ich werde manchmal gefragt, weshalb sich die Indianer nicht gegen das fremde Gedankengut wehrten, um ihr eigenes zu erhalten, das sie sich über Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende hinweg bewahrt hatten. Einige Missionare lockten mit materiellen Dingen, wenn man nur regelmäßig das Wort Gottes hörte, andere bauten regelrechte Drohkulissen auf und bedienten sich dabei alter Mythen der Aparai, die sie für ihre Zwecke umdeuteten.
Das »Tonstudio« meines Vaters
Weshalb mich die Geschichten am Lagerfeuer als Kind dermaßen in ihren Bann zogen, so dass ich noch lange Zeit an sie denken musste, war die Art und Weise, wie Anakalena sie vortrug. Natürlich deklamierte er sie viel wortreicher und blumiger, als ich das heute wiederzugeben vermag. Und seine sparsam dosierten, aber überaus wirkungsvollen Gesten taten ein Übriges, damit wir ihm bei seinen Schilderungen vom ersten bis zum letzten Wort an den Lippen hingen. Das Problem an den wenigen indianischen Geschichten, die es heute zu lesen gibt, manche davon sogar von Reformtheologen aufgeschrieben, ist ihr Mangel an Gesten. Im Grunde genommen müsste man sie als Film oder Theaterstück vorführen, wollte man ihre besondere Stimmung auch nur annähernd wiedergeben.
Mein Vater nahm solche Mythen regelmäßig auf Tonband auf. Er verglich diese Geschichten mit jenen, die er bei früheren Besuchen aufgezeichnet hatte. Um sie anschließend Seite für Seite mit einer mechanischen Schreibmaschine abzutippen und in Lautschrift auf Papier zu bringen, damit sie für die Nachwelt erhalten blieben. Das metallische Klappern der Tastatur hallte mitunter bis tief in die Nacht aus seiner Arbeitshütte am Rande der Pflanzungen.
Neben Anakalena war auch Kois Vater Kulapalewa häufig zu Gast im »T eehaus«. Auch er vermochte beeindruckende Geschichten von der alten Welt wiederzugeben. Natürlich hatte jeder Erzähler die Eigenart, seine Geschichten ein wenig anders auszuschmücken. Und je nach Herkunft der Vorfahren variierten sie. Im Himmel von Kois Vater lebten zum Beispiel auch Geier. So hatte er es von seiner Mutter Oloitö-Ämwani gelernt, der berühmten Geschichtenerzählerin. Und als der mächtige Urbaum zur Erde fiel, kamen mit ihm auch die fliegenden Aasfresser herab.
Mit ihren Geschichten hielten es die Aparai in etwa so wie etliche andere Kulturen mit ihren Glaubensüberlieferungen. Ganz gleich ob Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus oder Buddhismus – jede Glaubens- oder Kulturgemeinschaft blickt auf einen gemeinsamen Kern zurück, doch jeder interpretiert ihn ein wenig anders.
In dieser Nacht kam ich kaum zur Ruhe. In meinen Träumen wimmelte es nur so von Riesen, die den Himmel über ihren Köpfen trugen, und hellhäutigen, langhaarigen Wassermenschen, die unter unserer Erdscheibe lebten. Anstelle von Nasenlöchern hatten sie Kiemen, und ihre Haut war von perlmuttfarbenen Schuppen überzogen. Bei der nächsten Gelegenheit mussten Koi und ich uns unbedingt auf die Suche nach ihnen begeben …
Den gemeinsamen Runden am prasselnden Großfeuer fieberte ich fortan entgegen. Nach so einem Abend am Lagerfeuer ging man beschwingt wie nach dem Besuch eines guten Theaterstücks nach Hause. Während meine Tochter mir noch nach Wochen vorschwärmt, wie gut ihr »Der Zauberer von Oz« gefällt oder das Märchen vom gestiefelten Kater, waren es jene Aparai-Mythen aus der alten Zeit, die mich in ihren Bann zogen. Sie hießen »D ie Geschichte von den Wassermenschen«, »D ie Rache des Urwaldungeheuers Tamoko« oder »D as Märchen von den Himmelskletterern«. Sie steckten voller Überraschungen und unvorhersehbarer Wendungen und vermittelten uns ganz nebenbei den uralten Glauben der Aparai. Es waren Geschichten voller Magie und Poesie, die mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Eine eigene Schriftsprache hatten die Aparai nämlich nicht.
Besuch im Gartenhaus
Die Vertreibung aus dem Paradies
Koi und ich waren begeistert, als wenige Wochen später eine weitere Geschichte aus der alten Zeit zum Besten gegeben wurde. Für uns war das in etwa so, als würde die nächste Folge einer spannenden Serie im Fernsehen laufen. Oder als würde der lange erwartete zweite Band eines Romans endlich in die Buchläden kommen.
Wir erfuhren in diesen neuen
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