Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
die Kiefer ein. Das tat natürlich furchtbar weh, doch die mutigen Jaguare hielten diesen Schmerz ohne Wehleidigkeit aus. Ihre neuen Zähne funkelten in der Sonne und waren so hart wie Stein. Ganz anders die Menschen. Sie jammerten und beklagten sich die ganze Zeit über die furchtbaren Schmerzen, die das Einsetzen der Kristalle verursacht hatte. Und so kam es, dass der große Schöpfer sich diese Wehklagen eine Weile anhörte und ihnen schließlich die Bergkristalle wieder aus dem Mund nahm. Anstelle der steinharten Kristalle setzte er den Menschen nun weiche Erdnüsse ein. Das tat nicht weh, und die Menschen freuten sich. Doch der große Schöpfer, erbost über die Weinerlichkeit der Menschen, sagte zu ihnen: ›N och eure Kinder, Enkel und Urenkel werden weiche Zähne haben, während sich die Nachfahren der Jaguare harter und starker Zähne erfreuen werden.‹«
Araiba reichte mir eine Handvoll frisch gerösteter Erdnüsse. »S o ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Aparai Löcher in ihren Zähnen haben und ihnen die Zähne ausfallen, abbrechen oder verfaulen.«
Sylvia reckte gerade ihren Kopf aus der Hängematte, als ich aufsprang und an ihr vorbeirannte. Die Erdnusszahngeschichte musste ich unbedingt bei Koi loswerden. Bestimmt würde sie ihr gefallen. Falls sie sie nicht schon kannte. Auf mich hatte Araibas Geschichte jedenfalls großen Eindruck gemacht. Jedes Mal, wenn ich nun jemandem mit einer Zahnlücke begegnete oder alte Leute mit verfaulten oder abgebrochenen Zähnen sah, musste ich an die Wehleidigkeit unserer Vorfahren denken. Wie viel besser wäre es gewesen, wenn die Menschen ihren Schmerz klaglos ausgehalten hätten, so wie die tapferen Jaguare! Und obwohl ich beschloss, künftig besser auf meine Zähne Acht zu geben und sie gründlich mit einer Zahnbürste zu putzen statt nur mit einem Kratzstöckchen, mussten mir nach unserer Rückkehr nach Deutschland sämtliche Backenzähne plombiert werden.
Puppenstube im Urwald – Sylvia mit Alicechen und ich mit Kalijaku
Die Geschichte von Kalijaku
Die Parabel von den tapferen Jaguaren und den wehleidigen Menschen spukte noch eine Weile in meinem Kopf herum, als mich nicht lange darauf eine neue Geschichte in ihren Bann zog: das Märchen »B ambi« von Felix Salten, mit Zeichnungen von Walt Disney. Für mich machte es als Kind keinen Unterschied, ob ich traditionelle Mythen aus dem Urwald hörte oder Märchen, wie sie die Kinder in Europa und Amerika kannten. Beide fand ich gleichermaßen spannend, zumal, wenn es sich um Erzählungen aus dem Tierreich handelte. Besonders Rehe – Kapaus, wie sie im Urwald hießen – hatten es mir angetan.
Meine Mutter hatte eine Reh-Brosche, die ihr heilig war, obwohl sie eigentlich nur aus einem briefmarkengroßen Stückchen versilbertem Blech bestand. Dieser Anstecker gehörte zu den wenigen Habseligkeiten aus Deutschland, die meine Mutter als Erinnerung an ihre eigene Kindheit mitgenommen hatte. Das versilberte Schmuckstück war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Eine der ganz wenigen Kostbarkeiten, die er sich in der Nachkriegszeit überhaupt hatte leisten können. Ich hielt die kleine, inzwischen etwas verbeulte Brosche eines Morgens ehrfürchtig in der Hand, das Sonnenlicht, das auf das Relief fiel, ließ das kleine Reh beinahe lebendig erscheinen. Vom ersten Moment an war ich fasziniert von dem kleinen Tier und wollte unbedingt mehr über das Kitz erfahren, das ich kurzerhand Kalijaku taufte – das war die Aparai-Bezeichnung für ein zwergwüchsiges Reh. Meine Mutter erklärte mir zwar, sein richtiger Name sei »B ambi«, doch zu jenem Zeitpunkt kannte ich die Walt-Disney-Geschichte noch gar nicht und fand Kalijaku daher viel passender. Erst Monate später zeigten mir die Kinder der Missionarsfamilie, die im Nachbarort Aldeia Bona lebte, das weltberühmte Buch.
Unser Leben in Mashipurimo spielte sich fernab der Zivilisation ab. Und selbst wenn gelegentlich Aluminium-Kochkessel, ein Campingstuhl oder ein paar Ballen Stoff ihren Weg in den Urwald fanden, so wurden sie einfach integriert, ohne dass sie die Kultur und die ursprüngliche Lebensweise der Aparai groß verändert hätten. Dennoch gab es immer wieder und mit der Zeit mehr Berührungspunkte mit sogenannten Zivilisationserscheinungen. Die nordamerikanischen Missionare, die eifrig ihre Sprachforschungen betrieben, um die Bibel auf Aparai zu übersetzen, lehrten die Indianer unter anderem den Gebrauch von Kalakuli, Geld.
Seit Urzeiten
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