Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Jungtiere eingehalten. Und so brannte sich diese Geschichte in mein kindliches Gedächtnis ein, und ich schwor mir, nie wieder Kalijaku zu essen, obwohl ich Rehfleisch eigentlich mochte.
Schon bald darauf sollte mein Vorsatz auf eine harte Probe gestellt werden.
Wer essen will, muss auch töten können
Normalerweise wurden Kinder nicht auf die Jagd mitgenommen, schon gar nicht so kleine Mädchen wie ich. Erst wenn die Jungen von ihren Vätern und den anderen Männern im Stamm für reif genug befunden wurden, durften sie ungefähr ab dem achten Lebensjahr mit in den Urwald. Anfangs zum Fährtenlesen und später zur Jagd mit Pfeil und Bogen, wobei sie die Kunst der Tierstimmenimitation lernten. Darin waren die Aparai wahrhaftige Meister. Tapire, Vögel oder Affen wurden durch das Nachahmen ihrer Rufe gezielt vor die Flinte gelockt. Manche Jäger konnten sogar mithilfe eines Bambusrohrs den Schrei eines Jaguars nachmachen! Erst wer diese Fähigkeiten einigermaßen beherrschte, wurde an den Umgang mit einem Gewehr herangeführt. Vorausgesetzt, es gab eins. Denn Gewehre waren kostbar. Ganze Bootsladungen voller Federschmuck, Wildfleisch oder Tierfelle wurden gegen die ältesten Flinten eingetauscht – beim Handel mit den Waren aus der Zivilisation schnitten die Indianer nur selten gut ab. Manchmal lockte auch ein Gewehr, wenn man sich nur zu Jesus Christus bekannte und regelmäßig in die Predigt ging.
Aufbruch zur Jagd
Obwohl die Aparai Kinder in meinem Alter von der Jagd fernhielten, sollte es für mich unvorhergesehenerweise eine Ausnahme geben. Mein Vater wollte am oberen Alitani-Fluss ein paar alte Freunde besuchen, und meine Mutter schien sich darüber zu freuen, dass wir ausnahmsweise einmal ohne Gefolgsleute aus dem Dorf einen Ausflug als Familie unternahmen. An jenem Tag musste ich im Heck unseres Kanus Platz nehmen, die Füße auf dem wasserdichten Sack mit unserem Gepäck. Jeder Millimeter zählte. Angelhaken, Moskitonetze, ein paar Kanister mit abgekochtem Flusswasser, Jagdflinten, Munition sowie unsere Reisehängematten – mehr Sachen passten nicht in unser Boot. Was wir zum Essen brauchten, wollten meine Eltern unterwegs jagen oder angeln.
Mein Vater zählte die Namen der Flüsse und Nebenflüsse auf, die er bei früheren Aufenthalten bereist hatte und die meine Mutter und ich nun ebenfalls kennenlernen sollten.
Die vertrauten Wegmarken lagen längst hinter uns, als unsere Mägen zu knurren begannen. Mein Vater schlug vor zu angeln. Die paar Konserven mit den Ölsardinen wollten wir als Notration für später aufheben. Doch plötzlich wurde meine Mutter, die mit ihrem Fernrohr das Flussufer nach einer geeigneten Stelle zum Anlegen absuchte, ganz hektisch. Sie hatte irgendetwas entdeckt. Möglicherweise ein Wildschwein oder ein Krokodil, das auf einer Sandbank in der Sonne döste. Mit bloßem Auge konnte ich beim besten Willen nichts ausmachen und bettelte um das Fernrohr. Meine Mutter reichte es mir und schnappte sich ihre Jagdflinte. Mein Vater lenkte unser Boot mit geschickten Paddelschlägen Richtung Ufer. Lautlos glitt unser grünes Froschkanu am Rand der Böschung entlang, während meine Mutter aufrecht an der Spitze unseres Bootes stand und schließlich das Gewehr auf etwas im Dickicht anlegte. Doch obwohl ich inzwischen angestrengt durch das viel zu große Fernrohr linste, konnte ich nichts erkennen. Egal, in welche Richtung ich das Justierrädchen am Fernrohr drehte, alles blieb verschwommen.
Längst hatte mein Vater aufgehört zu paddeln. Meine Mutter schien hochkonzentriert, bereit, jeden Moment einen Schuss abzufeuern. »M ama, was machst du da?« Die Antwort war ein leises, aber sehr bestimmtes »P ssst«, dann drückte sie ab. Der Knall des Gewehrs ließ mich zusammenzucken.
»W eiter, weiter, schneller, da, noch ein Stückchen nach vorne«, rief meine Mutter meinem Vater zu. Da stolperte tatsächlich ein kleines Reh durch das Ufergestrüpp! Es schien zu Tode erschrocken, war aber zum Glück wohl noch nicht angeschossen. Bambi! Mein Herz pochte ganz schnell, mein Atem wurde flach, ich nahm das Dickicht wie durch einen dunklen Tunnel wahr. Mein Vater paddelte inzwischen, so schnell er konnte. Ich hoffte inständig, dass sich das Tier in Sicherheit bringen konnte, und rief zur Unterstützung alle guten Urwaldgeister an, die mir einfielen. Äste, die über den Fluss wuchsen, erschwerten uns die Weiterfahrt, wir kamen nur langsam voran. Ich atmete auf. Das kleine Rotwild war
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