Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
hatte ein reger Tauschhandel das Leben der Amazonasvölker bestimmt, der Wert einer Ware wurde gemeinsam festgelegt. Wer gut Körbe flechten konnte, tauschte sein Flechtwerk gegen Fisch, Tonwaren oder Federn ein. Ein guter Jäger hatte im Zweifelsfall genug Beute gemacht, um ein paar Felle gegen ein stabiles Paddel oder ein Bänkchen einzutauschen. Wer ein neues Haus benötigte, lud seine Nachbarn ein, beim Bau zu helfen, und verwöhnte sie im Gegenzug mit köstlichen Speisen und Getränken. Und ganz nebenbei wurde – nach getaner Arbeit, versteht sich – auch noch ordentlich gefeiert. Auf diese Weise wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Freundschaften gepflegt und Ehen arrangiert. Die einzige fremde Währung, die sich seit Ankunft der ersten Portugiesen etabliert hatte, waren Glasperlen. Nicht wirklich verwunderlich, dass Kalakuli ursprünglich die Bezeichnung für Perlen war. Perlen aus Samenkapseln, aus in Stücke geschnittenen Stachelschweinborsten, aus Nüssen und seit ein paar hundert Jahren eben auch aus Glas.
Sylvia und Araiba in festlicher Aufmachung – dazu gehört auch ein Spiegel meiner Mutter
Das neue, richtige Geld machte sich anfangs kaum bemerkbar, doch langsam und stetig in Umlauf gebracht, gerieten die Menschen am Amazonas erstmals in Abhängigkeit. Es weckte Begehrlichkeiten nach immer mehr Gütern aus der Zivilisation, die es vorher nicht gegeben hatte. Es schuf ein diffuses Gefühl von Ungleichheit. Wie schleichendes Gift sickerte es in die Dorfgemeinschaft ein und ließ bei jenen Menschen, die bislang so friedlich und gleichberechtigt miteinander gelebt hatten, erste Anzeichen von Neid und Habgier aufkeimen. Zumindest bei einigen.
Auf einmal gab es Unterschiede: Der eine konnte mehr kaufen als der andere, der ein weniger guter Geschäftsmann war. Einige verdingten sich bei den Weißen und fertigten ihr Kunsthandwerk von nun an nur noch im Auftrag und gegen Bares an, und nicht, weil es Kultur oder Alltag erfordert hätten. Etwa Pfeile, die nur noch zum Verkauf an reiche Amerikaner taugen mussten, schön anzuschauen, aber vollkommen unbrauchbar für die Jagd. Mit dem frisch verdienten Kalakuli kauften sich die Indianer dann bei fliegenden Händlern – meist zum christlichen Glauben übergetretene Aparai oder Wajana –, was ihnen an » Z ivilisationsartikeln« gefiel. Diese wurden so im gesamten Amazonasgebiet verbreitet. Manche tauschten ihr Kunsthandwerk auch direkt gegen die begehrten Waren ein. Billigster Tand im Tausch gegen mühevoll gefertigte Kunst, was letztendlich zur Folge hatte, dass das traditionelle Leben mehr und mehr in Vergessenheit geriet.
Als Kind bekam ich nicht allzu viel davon mit, dass der Konsum auch im Regenwald Einzug hielt, weil sich zumindest die Mashipurianer und die Dörfer am oberen Flusslauf weitgehend vom Tauschhandel in größerem Umfang fernhielten. Man tauschte ein paar Angelhaken ein oder mal einen Topf, mehr nicht, und selbst das blieb die Ausnahme. Bei uns im Dorf war man sehr vorsichtig, wenn sich die geschäftstüchtigen Christenhändler aus dem Nachbardorf ankündigten. Zeitweise wurden sogar Federschmuck und Tanzmäntel fortgepackt, sobald sich die »A bordnung« aus Bona näherte.
Bei unseren wenigen Anstandsbesuchen bei den Missionaren in Bona prallten folglich zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite die Menschen, die unbedingt ein paar »H eiden« zu frommen Christen bekehren wollten, in allerbester Absicht, versteht sich. Und auf der anderen Seite diejenigen, die eine ursprüngliche Kultur ergründen wollten, um sie nach Möglichkeit zu erhalten. Ebenfalls in allerbester Absicht. Das Anliegen der einen Seite schloss das der anderen Seite allerdings aus. Wir lebten genau wie alle anderen Aparai-Wajana im Urwald. Und wir respektierten ihren Glauben und ihre Kultur. Dass wir damit in etwa das Gegenteil von dem taten, was die Sprachforschermissionare so machten, erfuhr ich erst viel später. Natürlich war mir das als Kind nicht so bewusst. Ich merkte nur, dass die Stimmung bei unseren Besuchen in Bona irgendwie getrübt war. Dass niemand aussprach, was er wirklich dachte. Immer wenn ich meine Eltern nach den Missionaren fragte, wichen sie mir aus. Und wenn sie merkten, dass ich meine Ohren spitzte, wechselten sie das Thema. Heute weiß ich, dass die Missionare meinem Vater bereits bei einer seiner Reisen vor meiner Geburt bis nach Aldeia Bona gefolgt waren, weshalb er nun – so gut er konnte – die Aparai in Mashipurimo vor ihrem
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