Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Zeit bemerkte sein Vater nicht, wie sehr. Stattdessen bewunderte er die rundlicher werdenden Formen seiner jungen Frau, zumal ein wohlgeformter dicker Bauch bei den Aparai durchaus als Schönheitsideal gilt. Am abendlichen Lagerfeuer rühmte er seine Manneskraft. Ein prächtiger erwachsener Sohn, eine kleine Tochter und jetzt auch noch ein Nachzügler! Es muss für ihn ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, als Malina ihm beichtete, das ungeborene Kind sei von Chico. Malina hatte auf Verständnis und Vergebung gehofft. Doch sie hatte sich getäuscht.
Auf Leben und Tod
Nun musste sie sich zur Buße einem uralten Ritual unterwerfen. Immer wieder ließ sich die Hochschwangere auf ihren Bauch fallen. Mit geschlossenen Augen, begleitet von qualvollem Stöhnen. Was ich sah, verstand ich nicht, es erschien mir grausam und sinnlos. Meine Aparai-Erziehung sagte mir: »M isch dich nicht ein, es geht dich nichts an, das ist alleine Sache der Familie. Die anderen schauen auch nur zu.« Meine innere Stimme sagte mir: »S chrei, renn, hol Hilfe, rette das Baby in Malinas Bauch.«
Ich schaute zu Kulapalewa hinüber und überlegte, was ich tun könnte. Schließlich mochte er mich immer gut leiden. Er war stolz auf seine kleine Aparai mit den blonden Haaren. Außerdem war ich beinahe eine Art Schwester für seine Tochter Koi. Meinen Vater bezeichnete er als »g eschätzten Weggefährten und Blutsbruder«. Sie kannten einander seit Jahrzehnten, das musste doch zählen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte: »W as macht ihr da? Warum hilft ihr denn keiner?« Die Antwort war ein undefinierbares Gemurmel, ich konnte nicht einmal ausmachen, wer sprach. »S ie muss es tun, es ist besser so.« Innerlich schrie ich, doch ich brachte kaum mehr als ein heiseres Krächzen heraus: »A ber das Kuku Pitiko ist doch in ihrem Bauch!«
Jetzt wurde es Kulapalewa zu bunt. Schweren Schrittes schlurfte er auf mich zu. Ein bedrohlicher, zorniger Donnergott. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem würdevollen Mann, der so gerne bei uns vorbeikam, um mit meinen Eltern zu palavern, der stundenlang geduldig kaputte Netze für den Fischfang flickte und immer zu Scherzen mit uns Kindern aufgelegt war. Kulapalewas Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen als er mir zuraunte: »G eh weg, verschwinde von hier, das geht dich nichts an.«
Doch ich blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, mich zu bewegen.
»S onst bringe ich dich um«, schob Kulapalewa nach.
Das riss mich aus meiner Angststarre. So schnell ich konnte, rannte ich los, um meinen Vater zu holen. Die Strecke bis zu unserer Hütte kam mir doppelt so lang vor wie sonst.
»P apa, Paapaaaa! Komm schnell!«
»W as ist denn mit dir los?«, fragte mein Vater erstaunt. Er hatte es sich mit einer Tasse Bohnenkaffee auf einer Aluminiumkiste bequem gemacht, vor sich eine Dose Ölsardinen, die er zum Frühstück essen wollte. Neben ihm lag sein zerlegtes Jagdgewehr, das er offenbar nach dem Frühstück reinigen und ölen wollte. Papas Lieblingsfreizeitbeschäftigung, obwohl er gar nicht mehr so häufig zum Jagen ging. Zwar war er ein ausgezeichneter Schütze, aber auf Tiere zu schießen, machte ihm wenig Freude.
Mein Puls raste, und ich bekam kaum Luft: »T ante Malina schmeißt sich auf ihren Bauch, und alle schauen zu. Keiner hilft ihr.«
Mein Vater zog seine Augenbrauen hoch. »S o?«
»W eil Kulapalewa es so bestimmt hat.«
Mein Vater, immer bemüht, sich so wenig wie möglich in die Angelegenheiten der Aparai einzumischen, wurde schlagartig hellwach. Er wusste offenbar genau, was das zu bedeuten hatte, schnappte sich sein Gewehr und steckte es mit hastigen Handgriffen zusammen. Dass er in der Eile vergessen hatte, das Gewehr zu laden, gestand er mir erst später – die Patronen lagen derweil sicher verwahrt in der tropenfesten Aluminiumkiste.
Keuchend folgte mir mein Vater bis zu Kulapalewas Hütte. Als Erstes half er Malina hoch, die reglos auf dem Boden lag und wimmerte. Er beschwor sie eindringlich, so schnell wie möglich zu unserer Hütte zu laufen und dort zu bleiben. Dann wandte er sich an Kulapalewa: »S ofort herkommen, Kamerad!«
Tatsächlich kam Kulapalewa auf meinen Vater zu. Auf einmal wirkte er nicht mehr so bedrohlich, sondern ein wenig verunsichert. Mein Vater, auf dessen Stirn inzwischen dicke Schweißperlen standen, baute sich in seiner gesamten Größe vor Kulapalewa auf. Er überragte ihn um einiges und stand schließlich so dicht vor ihm, dass ich einen
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