Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
eine willkommene Abwechslung, da wir uns seit Beginn der sozialen Eiszeit nur mit Ölsardinen, Tomatenmark, Fertigreis und den herb schmeckenden Kochbananen, die hinter unserem Haus wuchsen, über Wasser hielten. Die Jäger und Fischer des Dorfes hatten uns hartnäckig gemieden. Mit der Zeit verdrängte das vertraute Plappern und Lachen in unserer Hütte das bedrückende Schweigen.
Nachdem fast das ganze Dorf heimlich bei uns ein und aus gegangen war, erschien eines Abends auch Kulapalewa – zu einem Gespräch unter Männern. Malinas Hängematte verhängten wir vorsichtshalber mit Tüchern. Böse Blicke waren nämlich sehr gefürchtet. Von dem langen Gespräch zwischen den beiden Männern erfuhr ich jedoch nicht eine Silbe. Ich nehme an, dass mein Vater Kulapalewa sein Wort darauf gegeben hatte.
Koi, die kleine Diplomatin
Die Fraueninsel
Endlich stand die Geburt von Malinas Kuku bevor. Die ganze Nacht hatte sie in ihrer Hängematte vor sich hin gestöhnt und so unruhig herumgewälzt, dass ich Angst bekam, unsere Hütte könnte einstürzen. Noch vor Sonnenaufgang packte meine Mutter das Nötigste in ihre kleine Medizintasche und lief rasch zum Gästehaus des Dorfes hinüber. Dort bat sie eine alte Frau aus dem Nachbardorf, die zu einer Art Dauerbesucherin in Mashipurimo geworden war, uns zur Insel hinüberzurudern. Zur »F raueninsel«, wie wir sie nannten, weil die Frauen dort in Ruhe ihre Kinder zur Welt bringen konnten. Kein Mann durfte an einem solchen Tag den runden, dunkelgrauen Granitfelsen inmitten des Flussbetts betreten. Und natürlich auch keine Kinder. So war es seit jeher Brauch.
Dass meine Mutter mich dennoch zur Geburt mitnahm, hatte eher praktische Gründe. Die Lage im Dorf war nach wie vor angespannt. Wer wusste schon, was Kulapalewa tun würde, wenn er erfuhr, dass die Geburt des unerwünschten Kindes unmittelbar bevorstand? Seit dem Tag der öffentlichen Buße hatte er kein Wort mehr mit seiner jungen Frau gewechselt.
An die Überfahrt im Morgengrauen erinnere ich mich nur dunkel. Im Bug des Kanus hockte meine Mutter und starrte angestrengt auf die Wasseroberfläche, damit wir mit unserem Boot nicht auf felsigen Grund liefen. Zwischen ihr und mir lag Malina, die leise vor sich hin stöhnte, die Arme um ihren Riesenbauch geschlungen. Ihre Beine hatte sie auf einer der Sitzplanken hochgelegt. Hinter mir saß die alte Frau aus dem Nachbardorf und trieb das Kanu mit lautlosen, gleichmäßigen Paddelschlägen Richtung Insel.
Die konkreten Vorbereitungen für die Geburt habe ich überhaupt nicht mehr im Gedächtnis. Ich weiß nur noch, wie aufgeregt ich war und dass ich die ganze Zeit an das Baby dachte. Wie es wohl aussehen würde? Was, wenn es durch die Stürze Schaden genommen hatte? Behinderte oder ungewollte Kinder wurden bei den Aparai unmittelbar nach der Geburt im Urwald ausgesetzt oder lebendig begraben. Nur Kinder, die erkrankten oder einen Unfall hatten, nachdem sie in die Gemeinschaft aufgenommen worden waren, wurden ein Leben lang versorgt.
Ich hoffte inständig, dass das Baby in Malinas Bauch gesund war. Ich wusste, wie mein Vater handeln würde, wenn ein Baby lebendig begraben werden sollte. »D ie Ausgegrabene«, ein geachtetes Mitglied unseres Clans, hatte ihr Leben seiner Hilfe zu verdanken. Und der Güte einer älteren Aparai, die selbst keine Kinder bekommen konnte. Gemeinsam mit meinem Vater hatte sie das Kind hastig ausgegraben und fortan wie ihr eigenes aufgezogen.
Ich kann mich noch gut an das Gespräch mit einem erfahrenen und weitgereisten Ethnologen erinnern, der mir vor einigen Jahren Vorwürfe machte, mein Vater habe in dieser Situation falsch gehandelt. Seiner Meinung nach hätte er sich nicht einmischen dürfen, gerade weil er als Völkerkundler die Traditionen und Bräuche hätte respektieren müssen. Konsequenterweise hätten beide Babys sterben müssen, Malinas ungeborenes Kind und die »A usgegrabene«. Ich wusste, dass mein Vater alles dafür getan hat, die Kultur der Aparai zu schützen und zu bewahren. Diese beiden Fälle jedoch stellten ihn vor ein Dilemma, hier geriet er an eine Grenze, die er nur ungern übertreten wollte. Die Tatsache, dass die beiden ehemals ungewollten Mädchen später zu hochgeschätzten Mitgliedern der Stammesgemeinschaft wurden, gibt ihm aus meiner Sicht im Nachhinein Recht. Außerdem: Denkt man die Position des Ethnologen zu Ende, dürften wir auch dann nicht für Menschenrechte eintreten, wenn in anderen Regionen der Welt
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