Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Augenblick lang dachte, er trete ihm auf die Zehen. Gestützt auf sein Jagdgewehr, sah mein Vater recht beeindruckend aus, wenngleich mir nicht entgangen war, dass er sich eher daran festhielt, als es zur Drohung einzusetzen. Die markanten Kiefer Kulapalewas mahlten. Seine Augen funkelten zornig, sein Gesicht war tiefrot. Was die Männer nun leise, aber bestimmt miteinander sprachen, konnte ich nicht genau verstehen. Ich hatte mich bereits in Deckung gebracht, bereit, jede Sekunde zu flüchten.
Später erzählte mir mein Vater von dem Gespräch. Er hatte Kulapalewa ganz ruhig gefragt: »M ein Freund, dieses Kind muss nicht sterben, oder?« Kulapalewa hatte geantwortet, dass dieses Kind nicht leben dürfe, da es nicht von ihm sei, und eine Schande für die Familie. Auf den Einwand meines Vaters hin, dass er doch gar nicht mit Sicherheit wissen könne, dass es nicht von ihm sei, und er deshalb seiner Frau vergeben solle, hatte der Häuptling entgegnet: »S ie hat mich zum Gespött gemacht, das Kind ist von meinem Sohn.« Auf diese Antwort war mein Vater vorbereitet gewesen: »S o? Dann bist du also der Großvater, und nun willst du ein Kind von deinem eigenen Blut töten?«
Kulapalewa hatte geschwiegen und meinen Vater weiterhin zornig angeblickt. Der hatte sich bemüht, mit ruhiger, aber fester Stimme klarzustellen, dass dieses Kind zur Welt kommen würde. Und dann hatte er noch gesagt: »W enn du es nicht willst, werden wir es aufziehen, als wäre es unser eigenes. Und wenn du deine Zweitfrau verstößt, werden wir auch sie in unserem Haus willkommen heißen.« Zum Abschluss hatte er Kulapalewa gebeten, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Wenn er danach die Sache anders sähe, könnten sie gemeinsam in Ruhe noch einmal über alles sprechen. Schließlich sei Kulapalewa ein langjähriger Freund und Bruder und ihm somit jederzeit willkommen, wenn er gute Absichten hege.
Auf diese Weise hatte mein Vater Kulapalewa nicht vor den anderen bloßgestellt, ihm nicht einmal gedroht. Er hatte sich zwar dem Willen des Häuptlings widersetzt, aber ihm gleichzeitig in alter Verbundenheit die Hand gereicht.
Schließlich wandte mein Vater sich ab, winkte mich zu sich, und dann gingen wir Hand in Hand betont langsam zu unserer Hütte hoch. Am liebsten wäre ich gerannt, doch mein Vater zwang mich, Ruhe zu bewahren. Panik durfte man sich niemals anmerken lassen, sonst hatte man schon verloren.
Eiszeit in den Tropen
Zwischen meinen Eltern und den Dorfbewohnern herrschte anschließend für ein paar Wochen Eiszeit. Sie kamen mir vor wie Monate, an manchen Tagen sogar wie Jahre. Kein Kind kam zum Spielen vorbei, ich durfte unsere Hütte kaum noch verlassen. Meine Eltern waren besorgt, dass mir etwas passieren könnte. Es war das einzige Mal in meiner Kindheit, dass mich eine Tradition der Aparai verstörte. Ich war wütend, dass ein einziger Mann eine Entscheidung über Leben und Tod getroffen und sich ihm niemand widersetzt hatte.
Unsere Hütte, in der nun auch Malinas Hängematte hing, war wie abgeschnitten vom Leben im Dorf. Nur Antonia besuchte uns hocherhobenen Hauptes weiterhin. Sie hatte kein Problem damit, sich den Anweisungen des Häuptlings zu widersetzen. Demonstrativ lud sie meine Eltern zum Affeneintopf ein, die jedoch dankend ablehnten, weil sie in der Nähe der hochschwangeren Malina bleiben wollten. Aber ich durfte mit ihr gehen. Antonia versprach, mich nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen, was meine Eltern beruhigte. Niemand im Dorf würde es wagen, sich mit ihr anzulegen. Mit »d em Maschinengewehr«, wie sie von den jungen Kriegern ehrfürchtig genannt wurde. Sie wussten, wer es mit ihr aufnehmen wollte, würde garantiert den Kürzeren ziehen. Antonia schaffte es, sogar gestandene Mannsbilder zum Schweigen zu bringen – und sie hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie erzählte mir, dass Araiba sich furchtbar über den Vorfall aufgeregt habe: »E in unschuldiges Baby töten zu wollen, ja sind die denn von allen guten Geistern verlassen! Wir brauchen doch so dringend Nachwuchs. Jedes Kind ist ein Geschenk des Himmels.« Als Antonia ihn ermahnte, leiser zu sein, habe Araiba – noch lauter, damit es ja alle hörten – ausgerufen: »I ch darf das sagen, ich bin schon alt.«
Die meisten Dorfbewohner wussten nicht, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollten. Sie waren verunsichert, weil wir einer »G eächteten« Obdach gaben, die noch dazu die Frau eines einflussreichen Mannes
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