Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
verschwunden.
Enttäuscht ließ meine Mutter das Gewehr sinken. Sie war sichtlich niedergeschlagen, weil uns das Abendessen entwischt war. Unterdessen trieb unser Boot weiter, und die Strömung zog uns langsam vom Ufer fort. Auf einmal sah ich das rotbraune Fell wieder zwischen den vorbeiziehenden Baumstämmen aufblitzen. Das Reh schien nicht zu wissen, in welche Richtung es laufen musste, um seinen Jägern zu entkommen. Möglicherweise war es doch verletzt. Warum rannte es denn nicht einfach in den Urwald? Ich wollte das Bambi unbedingt verscheuchen. Doch meine Mutter hatte ihr Gewehr bereits wieder in Position gebracht und blickte mit einem Auge durchs Zielfernrohr, während sie das andere zusammenkniff. »N eeein! Mama, du darfst nicht auf das Kalijaku schießen!«, schrie ich. Das war mein Bambi. Den Satz bekam ich gar nicht mehr zu Ende, da fiel bereits der nächste Schuss.
Noch nie war ich so verzweifelt gewesen. Mein Vater paddelte hektisch, er war geschickt darin, das Boot in jede beliebige Richtung zu wenden, meine Mutter legte erneut an, zielte und schoss. Das Ganze wiederholte sich so lange, bis sie tatsächlich mehrfach getroffen hatte und das Tier leblos im Ufergestrüpp liegen blieb. Ich hielt mir beide Augen zu, um nicht mitansehen zu müssen, wie meine Eltern das tote Reh in unser Boot hievten. Lautlos weinte ich in mich hinein. Alle Beteuerungen meiner Eltern, das Reh sei zwar klein, aber längst ausgewachsen, waren vergeblich. Die Trauer über den Tod des Bambis legte sich wie ein dunkler Schleier über den Abend. Als meine Eltern dem Reh das Fell abzogen und seine Innereien den Piranhas im Fluss zuwarfen, kehrte ich ihnen den Rücken. Obwohl sie mir später den leckeren Schmaus in den schönsten Worten anpriesen, »g leich gibt es einen richtig feinen Braten, Cathrinchen«, nahm ich keinen Bissen davon.
Ich erinnere mich noch gut an die Abendstimmung, als wir auf der kleinen Insel im Fluss rasteten, und daran, wie der köstliche Fleischgeruch mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Tatsächlich wurde mein Hunger mit jeder Minute größer, während dort drüben zwischen den Büschen auf einem Spieß ein prächtiger Rehbraten über dem Feuer brutzelte. Meine Mutter riss das Fleisch in großen Stücken vom Knochen und kaute missmutig darauf herum.
»K omm, lass sie doch«, sagte mein Vater mit einer Kopfbewegung in meine Richtung, aber meine Mutter kochte inzwischen vor Wut. Schließlich hatte sie es nur gut gemeint und uns alle satt bekommen wollen. Hatte ihre Leistung denn nicht auch ein bisschen Respekt verdient? Wie konnte man sich so aufführen? Und überhaupt, das war kein Bambi, sondern ein ausgewachsenes und sogar schon etwas zähes Reh.
»D ann war es eben die Mutter von Bambi«, schleuderte ich meiner Mutter entgegen, was alles noch schlimmer machte. Den Rest des Abends brachte ich damit zu, den Geist des toten Tiers um Vergebung zu bitten.
Die Ölsardinen, die mir mein Vater später heimlich zusteckte, schmeckten scheußlich. In hastigen Bissen schlang ich die tranigen Fische hinunter, ohne sie vorher zu kauen. Verheult rollte ich mich in meiner Hängematte ein. Im Aufbauen des Nachtlagers waren meine Eltern geübt. Und auf der Felseninsel waren wir vor den großen Tieren sicherer als an Land.
»G ute Nacht, Cathrinchen«, kam es versöhnlich von meinen Eltern, »s chlaf gut und träum was Schönes.«
Doch ich tat, als wäre ich schon längst eingeschlafen, um ihnen nicht mehr antworten zu müssen. Ein letzter Blick in den tiefdunklen Nachthimmel. Und ein lautloser Gruß an die Seele des verstorbenen Rehs.
Nachtlager auf der Felseninsel
In den kommenden Wochen sprachen wir nicht mehr über das Reh, bis mir meine Eltern von einem Besuch in Belém eine Puppe mitbrachten. Ob nur aus schlechtem Gewissen heraus, weiß ich nicht, vielleicht auch, weil es sich um eine Indianerpuppe handelte, was für Mitte der 1970 er Jahre recht ungewöhnlich war. Ursprünglich eine nordamerikanische Indianersquaw mit Kriegsbemalung, die Antonia umgehend in eine kleine Aparai verwandelte. Dazu bekam die dunkelhäutige Puppe mit dem schwarzen Haar ein eigenes kleines Wäju geknüpft und eine Kette aus winzigen Nagetierzähnen. Zum Gedenken an das tote Reh taufte ich die Puppe Kalijaku. Damit war die Sache zwischen meinen Eltern und mir ausgestanden. Meine Puppe Alicechen hatte endlich auch eine Patin. Und Sylvia und ich mussten uns nicht länger eine Puppe zum Bemuttern teilen. Bald würden wir
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