Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Frauen gesteinigt oder Mädchen beschnitten werden. Grausamkeiten, die zwar alten Ritualen entstammen mögen, für die es meines Erachtens aber keine Legitimation mehr geben darf.
Während ich auf dem glatt geschliffenen Kugelfelsen eine gefühlte Ewigkeit darauf wartete, dass etwas geschah, machte mich das Plätschern des Wassers und das Rauschen der nahe gelegenen Stromschnelle schläfrig. Erst durch Malinas Schreie wurde ich wieder wach. Erschrocken hielt ich mir die Ohren zu. Meine Mutter stützte Malinas Kopf und tupfte ihr behutsam den Schweiß von der Stirn. Die alte Frau brachte einen Kessel mit abgekochtem Wasser. Danach paddelte sie nach Mashipurimo zurück. Sie hatte meiner Mutter den Wunsch erfüllt, uns zur Insel zu bringen, und damit den Bann des Häuptlings missachtet, der noch nicht aufgehoben worden war. Indem sie zurückruderte, machte sie deutlich, dass sie nicht zwischen die Fronten geraten wollte. Immerhin war sie nur Gast in unserem Dorf. Aus den Angelegenheiten der Nachbardörfer hatte man sich im Verständnis der Aparai herauszuhalten.
Eigentlich hatte mich die alte Frau mitnehmen wollen; ein Kind hatte in ihren Augen bei einer Geburt nichts verloren. Doch meine Mutter bestand darauf, dass ich blieb. Die beiden vereinbarten, dass wir ihr ein Signal geben würden, wenn sie uns wieder abholen sollte.
Danach ging alles ganz schnell. Malina, deren ebenmäßiges Gesicht inzwischen nur noch eine schmerzverzerrte Fratze war, schrie noch lauter als zuvor, beide Hände zu Fäusten geballt. Es war kaum auszuhalten. Meine Mutter feuerte sie an: »P ressen, pressen, pressen. Gleich hast du es hinter dir, dein Baby hat es eilig.«
Malina stöhnte.
»S ieh nur, da ist schon das Köpfchen, ich kann lauter schwarze Haare erkennen. Pressen! So fest du kannst!«
Wenige Augenblicke später hielt sie das blutverschmierte kleine Wesen in ihren Armen. So glücklich hatte ich meine Mutter noch nie gesehen, sie strahlte übers ganze Gesicht. Es war ein gesundes, kleines Mädchen. Wunderschön. Erschöpft ließ Malina ihren Kopf nach hinten sinken. Ihre verschwitzten Haare klebten in nassen Kringeln auf der Stirn. Ich glaube, sie weinte vor Erleichterung. Oder vor Freude.
Ich saß direkt zu Malinas Füßen. Hätte ich gewusst, wie viel Blut und Schleim da noch eimerweise herausplatschten, hätte ich meinen Beobachtungsposten ganz sicher an einer anderen Stelle bezogen. Vor allem den Mutterkuchen fand ich furchtbar eklig, im ersten Moment hatte ich geglaubt, es käme noch ein zweites Baby hinterher. Jedenfalls spürte ich einen leichten Brechreiz im Hals aufsteigen. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, wie so eine Geburt abläuft. Ich hatte Angst und konnte gleichzeitig kaum den Blick abwenden, so fasziniert war ich.
Das kleine, mit Käseschmiere überzogene, purpurrote Menschlein war zu meiner Überraschung kaum größer als meine Puppe Alicechen. So ein verhutzeltes Wesen hatte ich noch nie gesehen. Es erinnerte mich an ein aus dem Nest gefallenes Vogelküken ohne Federn. Meine Mutter hielt das Baby fest im Arm, die Nabelschnur zwischen ihren Händen.
»M öchtest du vielleicht durchschneiden?«
Ich betrachtete den bläulich schimmernden hellen Schlauch, der wie eine gehäutete Schlange aussah. Angewidert schüttelte ich den Kopf. Nein, ich wollte nichts durchschneiden. Feierlich durchtrennte meine Mutter die Nabelschnur mit einer kleinen Schere und verknotete sie anschließend auf dem winzigen Babybauch. Sie erklärte mir, dass der Rest des Nabels, der hinter dem Knoten noch heraushing, in ein paar Wochen vertrocknen und abfallen würde. Ganz von alleine. Ich war beeindruckt, wusste aber immer noch nicht so recht, ob ich nun weinen oder lachen sollte, so sehr waren meine Gefühle in Aufruhr. Eine Geburt haut hierzulande schließlich die stärksten Männer um.
Neugierig betrachtete ich das winzige Baby, das seine Augen zu meinem Bedauern fast die ganze Zeit über geschlossen hielt. Es hatte ein unüberhörbares Quäkstimmchen, in das ich mich sofort verliebte. Gespannt beobachtete ich, wie Malina das Baby, das meine Mutter inzwischen sauber gewaschen hatte, an die Brust gelegt wurde. Es fing sofort an zu saugen. Ich war das glücklichste Mädchen am Amazonas. Ich war dabei gewesen, als meine kleine Patenschwester Tanshi in unser Leben flutschte.
Als wir von der Insel zurückkamen, stand das ganze Dorf Spalier. Alle waren erleichtert, dass das Drama nun doch ein gutes Ende genommen hatte. Nur Chico stand
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