Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
mitnehmen, was natürlich nicht möglich war.
Die Nachricht von der neuen Urwaldapotheke verbreitete sich wie ein Lauffeuer weit über die Grenzen der Aparai-Siedlungen hinaus, so dass sogar Menschen in unser Dorf strömten, deren Sprache keiner verstand. Leute vom Stamm der Wajapi zum Beispiel, die den Aparai sogar ein wenig unheimlich waren. Trotz der sprachlichen Barriere hatten sie keine Probleme damit, klarzumachen, dass sie gerne Pflaster hätten. Überhaupt waren Pflaster der Renner schlechthin. Sie hielten viel besser als Heilerde oder Baumrinde. Manche trugen ihr kleines, nach Medizin duftendes Pflaster voller Stolz mit sich herum, als handle es sich um einen Orden. Die hellen Pflaster leuchteten wie Kriegsbemalung auf der dunklen Haut. Manche Patienten gingen mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten in die Urwaldapotheke hinein und kamen leichtfüßig und erhobenen Hauptes wieder heraus. In der Urwaldapotheke, so glaubten wir zumindest, wurden wahre Wunder vollbracht. Wahrscheinlich hätte meine Mutter bei den meisten Beschwerden auch Bonbons verordnen können. Die Wirkung wäre vermutlich ähnlich gewesen.
Anders war die Reaktion bei Patienten, deren Wunden mit Jod verarztet wurden. Waren die Wunden bereits vereitert, mussten sie mit Alkohol ausgeputzt werden, bevor sie fachkundig verbunden wurden. Diese Patienten wirkten weniger erfreut, wenn sie die Urwaldapotheke wieder verließen. Dass das orangefarbene Alkoholwasser wie die Stiche tausender Feuerameisen auf einer offenen Wunde brannte und außerdem auch noch ekelhaft roch, konnte ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
Unschlagbar populär war das wundersame Heilmittel Apiri (Aspirin), auf das ich noch zwanzig Jahre später bei meiner Rückkehr nach Aldeia Bona angesprochen wurde. Ihm schrieben die Kranken eine übermächtige Wirkung zu. Das Wundermittel vermochte so ziemlich jeden Schmerz und jede noch so furchtbare Krankheit zu heilen, wenn man den detaillierten Beschreibungen der Geheilten Glauben schenken mochte. Einmal hatte sogar ein richtiger Zauberer über einen Boten um Aspirin bitten lassen. Die Tabletten wurden während seiner Zeremonien zur Krankenbehandlung zu einem Pulver zerstampft, mit einem Tropfen Wasser zu Brei vermischt und in schmerzende Zahnlöcher gefüllt. Eine neue, aber offenbar wirkungsvolle Methode – das zumindest wurde uns später berichtet.
Überflüssig zu erwähnen, dass unsere Vorräte an Apiri sehr viel schneller aufgebraucht waren als erwartet. Äußerst beliebt waren auch diverse Wurmkuren, die meine Mutter ihren Patienten mit ein paar aufmunternden Worten und detaillierten Hygiene-Anweisungen mit auf den Weg gab. Der Wurmbefall in den meisten Dörfern war zwar nicht wirklich gefährlich, unangenehm war das kitzelnde Gewürm im Magen-Darm-Trakt allerdings schon.
Eine begehrte Ware waren auch die Zahnbürsten, die meine Mutter verteilte, da vereiterte Zähne für schlimme Krankheiten verantwortlich waren. War es da nicht besser, von vornherein für sauberes Kaubesteck zu sorgen? Meine Mutter zeigte jungen Müttern, wie sie ihren Kindern das Zähneputzen beibringen konnten. Viele machten die kreisenden Bewegungen gleich nach, stolz darüber, dass sie nun statt des Kratzstöckchens eine bunte Zahnbürste bekamen. Dass sich meist eine ganze Familie eine einzige Zahnbürste teilte, obwohl es genug für alle gegeben hätte, ist eine andere Geschichte. »I mmer noch besser, als die Zähne überhaupt nicht zu putzen«, befand mein Vater kurzerhand. Womit er vermutlich Recht hatte.
Tropenfieber
Ich erinnere mich nicht mehr, wie oder wann genau auch ich krank wurde; wann mich jene tückische Mücke mit dem harmlosen Namen » Anopheles« infiziert hatte. Ein winziger Moskitostich hatte ausgereicht, um jene Krankheit zu bekommen, deren Namen ich schon einmal gehört hatte: Malaria.
Meine Erinnerung an meinen Überlebenskampf setzt ein, als ich quer über den Armen meines Vaters lag. Ich war wohl eine Weile bewusstlos gewesen und wachte kurz auf, um erstaunt festzustellen, dass mich meine Eltern mitten in der Nacht durch Mashipurimo trugen. Alle waren in ihren Hütten, hier und da drang ein leises Husten aus den Langhäusern. Das gesamte Dorf schien im Tiefschlaf versunken, nicht einmal Hundegebell war zu hören. Auf dem Hauptplatz, dessen hell gestampfter Lehmboden im Mondschein wie Schnee leuchtete, qualmten noch die verkohlten Holzreste vom großen Abendfeuer. Nur das bleiche Licht des Vollmonds wies
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