Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
uns den Weg zum Ufer hinab. Was hatten meine Eltern nur vor?
Ich wollte meinen Vater fragen, was los sei, doch ich brachte kein Wort über die Lippen. Nicht mal den Kopf konnte ich richtig heben, meine Nackenmuskeln waren weich und spannungslos wie ein Gummiband. Bei jedem Schritt meines Vaters baumelte mein Kopf unkontrolliert hin und her. Meine Kehle war trocken und rau. Jeder Versuch zu schlucken, fühlte sich kratzig an, als hätte ich eine Portion Sand geschluckt. Mir fehlte die Kraft, um die Worte, die meine Lippen formten, in einen Ton zu übersetzen.
»P apa?«
Endlich bemerkte mein Vater, dass ich wach war. In seinen Augen lag Angst.
»B eeil dich, schneller!« Die Stimme meiner Mutter klang panisch.
Immer wieder dämmerte ich weg, daher konnte ich nur ein paar Wortfetzen aufschnappen. Irgendetwas über zu hohes Fieber. Und dass der Fluss die letzte Chance sei. Ich hörte, wie meine Mutter sagte: »S ie verbrennt uns noch!«
Meinten die mich? Brannte ich? Es war doch nirgendwo Feuer zu sehen.
Mein Vater stolperte, mein Gewicht machte ihm offenbar zu schaffen. Im letzten Moment fing er sich wieder. Es tat mir leid, dass ich schwer wie ein Mehlsack war. Wieder versuchte ich, mich aufzurichten. Ich konnte doch selber laufen. Schließlich war ich kein Baby mehr, kein Kind in meinem Alter wurde in Mashipurimo noch von seinen Eltern herumgetragen.
Aber es war zwecklos. Da war kein bisschen Kraft in mir. Mein Vater stöhnte vor Anstrengung. Und hin und wieder, wenn er über etwas stolperte, fluchte er leise vor sich hin.
Ich sah mit meinen fiebrigen Augen, dass meine Mutter ein paar Schritte vor uns herlief. Vermutlich um aufzupassen, dass mein Vater nicht auf eine Schlange oder Kröte trat. Oder über die Felsen stolperte, die das Flussufer säumten. Papa folgte ihr, so gut es ging. Hier und dort deutete sie auf Baumwurzeln und auf andere Hindernisse, auf die er achten musste.
Das kühlende Wasser des Rio Paru war meine Rettung
Mir war heiß und kalt zugleich. Und jedes Mal, wenn ich versuchte, mich aufzurichten, umfing mich eine bleierne Müdigkeit, die mich bald wieder hinabzog. Eine Art Ohnmacht, gegen die ich mich erfolglos wehrte. Vor lauter Anstrengung biss ich die Zähne zusammen, doch das tat weh. Ich spürte den Schmerz in jeder einzelnen Zahnwurzel, ich hatte Gliederschmerzen, mein Kopf tat weh, und meine Augen brannten. Alles verschwamm. Verschwommenes Papagesicht, verschwommene Mama, verwischter Mond, die verwässerten Konturen der übermächtigen Schattenbäume in der Dunkelheit. Sogar die Sterne, die sich sonst so scharf abhoben, waren nur noch ein wirres Gekritzel aus Licht auf der tiefschwarzen Himmelstafel. Ich wollte schlafen, nur schlafen. Alles andere war mir egal. Ich sehnte mich nach meiner Hängematte mit dem bauschigen Moskitonetz, wollte nichts mehr als zurück in unsere Hütte.
Meine Mutter tätschelte besorgt meine Wangen. »S chön wach bleiben. Cathrinchen, versuch noch ein ganz kleines bisschen wach zu bleiben. Nicht wieder einschlafen.«
Sie fuhr mir über den Kopf und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Ich genoss ihre Berührung auf meiner Haut, ihre Finger waren so schön kühl. Von mir aus konnten sie noch ein Weilchen dort bleiben. Mamas Finger rochen immer nach frischer Erde. Nach dem rotbraunen Boden der Pflanzungen, in den sie die Stecklinge hineinbohrte, den sie umgrub, um anschließend Baumwolle zu pflanzen, Maniok, Erdnüsse, Zuckerrohr, Bananenstauden, Ananas, Papaya oder Süßkartoffeln. Meine Mutter war eine leidenschaftliche Gärtnerin, Rodungen und die Pflege der Pflanzungen – das war ihre Welt.
Ich wollte der Mama mit den wohlriechenden und kühlenden Händen sagen, dass es mir gut ging. Dass sie sich meinetwegen nicht zu sorgen brauchte. Sie musste mich nur ein bisschen schlafen lassen. Dann würde ich bald wieder wach und munter sein. Ich bemühte mich, meine Augen offen zu halten, doch meine Lider fühlten sich an, wie mit Mühlsteinen beschwert. Ein letztes Blinzeln, dann sank mein Kopf nach hinten.
Von ganz weit weg vernahm ich den aufgeregten, fast hysterischen Ton in den Stimmen meiner Eltern. Und ich weiß noch, wie ich mich darüber wunderte. Eigentlich war doch gar nichts passiert. Ich konnte ihre Stimmen hören, ich war ja nur müde und nicht etwa tot. Aber meine Eltern schienen das nicht zu begreifen. Unentwegt sprachen sie weiter, mal flüsternd, dann wieder laut und hektisch, verzweifelt. Ich meinte zu bemerken, dass
Weitere Kostenlose Bücher